Brasilien: Die alltägliche Korruption

Als das Programa de Aceleração do Crescimento (kurz PAC, zu Deutsch „Wachstumsbeschleunigungsprogramm“) im Jahr 2007, in der zweiten Amtszeit des heutigen Ex-Präsidenten Luis Inácio „Lula“ da Silva verabschiedet wurde, war das Hauptziel des Programms vor allem Großbauten in den Bereichen der sozialen, urbanen, logistischen und versorgungstechnischen Infrastruktur zu errichten, um so für eine nachhaltige Entwicklung des Landes zu sorgen.

2011 trat unter der Regierung von Staatspräsidentin Dilma Rousseff die zweite Phase des PAC in Kraft. Noch mehr Bauten und noch mehr Mittel wurden zur Verfügung gestellt. Die Idee war ziemlich simpel: mehr Bedarf nach Arbeit, mehr Arbeitsplätze, mehr Geld in der Wirtschaft, mehr Konsum und mehr Infrastruktur. Ein Domino-Effekt zum Wohle des Landes.

Sechs Jahre nach dem Start des Wachstumsprogramms haben sich zahlreiche Korruptionsanzeigen [pt] im Zusammenhang damit angesammelt. Unter anderem der Skandal [pt] um das Bauunternehmen Delta Construções S/A, einer der Hauptauftragsnehmer des PAC und größter Empfänger von Bundesgeldern seit 2007.

IV Marcha Brasil Contra a Corrupção. Foto dp Movimento Brasil Contra Corrupção. (CC BY-NC-SA 2.0)

IV. Marsch „Brasilien gegen Korruption“ Foto: Movimento Brasil Contra Corrupção (CC BY-NC-SA 2.0)

Das Unternehmen unter dem Vorsitzenden Fernando Cavandish steigerte seinen Umsatz von 67 Millionen Reais [25 Millionen Euro] auf 3 Milliarden Reais [1,1 Milliarden Euro] innerhalb von neun Jahren, eines der Unternehmen mit dem größten Wachstum des ganzen Landes. Das Wachstum liegt nicht allein an den zahlreichen Stadienbauten für die kommende WM, auch überhöhte Rechnungen und Schmiergeld sind Teil dessen.

Als der PAC in Kraft traft, war einer der Vorsätze [pt] der folgende:

um conjunto de medidas destinado a gerar mais emprego e renda, desonerar e incentivar o investimento privado, aumentar o investimento público e aperfeiçoar a política fiscal.

Ein Maßnahmenpaket, das dazu dient mehr Arbeit und Einkommen zu schaffen, Anreize für private Investitionen zu schaffen, die öffentlichen Investitionen zu steigern und die Fiskalpolitik zu verbessern.

http://www.youtube.com/watch?v=Ud4mXEq0gKY

In der zweiten Phase des PAC gehören zu den zehn größten Bauwerken [pt] auch die Wasserkraftwerke von Belo Monte und Santo Antônio. Beide Baumaßnahmen werden für ihre Auswirkungen auf die indigene Bevölkerung stark kritisiert. Zwischen 2011 und 2014 gedenkt die Bundesregierung, 955 Milliarden Reais [355 Milliarden Euro] zu investieren.

Kritiker reagieren auf ihre Art und Weise auf die Korruption in Zusammenhang mit dem PAC-Programm. In Erinnerung an das Konsolenspiel „PAC-Man“ wurde ein Onlinespiel namens „Roba Roba” [pt] veröffentlicht: der Spieler schlüpft dabei in die Rolle eines Politikers und muss so viel Geld wie möglich einsammeln. Die Gegner („das Volk“, „die Presse“, „die Justiz“ und „die Bundespolizei“) versuchen dies zu verhindern.

Roba-Roba. Imagem divulgada no portal TechTudo - "Seja um político corrupto em Roba-Roba"

Screenshot des Onlinespiels „Roba-Roba“ (via TechTudo). „Seien Sie ein korrupter Politiker.“

Korruption abseits des PAC

Eine Studie des Industrieverbands von São Paulo (FIESP) aus dem Jahr 2010, die auf der Seite Desviômetro [pt] (übersetzt etwa „Korruptometer“) veröffentlicht wurde, versucht die Höhe des durch Korruption, Unterschlagung, Betrug, Schwarzhandel, etc. verlorene Geld zu beziffern:

[o] custo médio da corrupção no Brasil [é] de 2,3% do PIB, isto é, R$ 69.1 bilhões ano base 2008. Este percentual parece modesto, tendo em vista que as pessoas cuja renda familiar per capita é superior a cinco salários mínimos, 27,8% concordam que o problema mais grave é a corrupção.

Die Durchschnittskosten der Korruption in Brasilien betragen etwa 2,3% des BIP, das heißt im Jahr 2008 waren das etwa 69,1 Milliarden Reais [etwa 25 Milliarden Euro]. Dies mag wenig (sic!) sein, angesichts der Tatsache, dass 27,8% der Brasilianer, deren Einkommen das fünffache des Mindestlohns beträgt, Korruption für das schwerwiegendste Problem Brasiliens halten.

Die Seite „Desviômetro“ berechnet seit Anfang des Jahres die Summe, die bis heute unterschlagen wurde – und befindet sich dabei in stetigem Wachstum. Zum diesem Zeitpunkt sind bereits mehr als sieben Milliarden Reais [etwa 2,6 Milliarden Euro], was genügen würde um 999.491 Mittelstufenlehrer anzustellen und 41.789 Wohnhäuser zu bauen.

Screenshot do website Desviômetro: "Isto é uma projeção de quanto pode ter sido desviado de 01/01/2013 até este exato momento por: desfalque, falcatrua, negociata, traficância, velhacaria e corrupção."

Screenshot der Website Desviômetro: „Dies ist eine Projektion, wie viel Geld bereits seit dem 1. Januar 2013 durch Korruption, Unterschlagung, Betrug etc. unterschlagen wurde.“

Laut der Organisation Transparency International [en], belegte Brasilien im Jahr 2012 den 73. Platz von 1882 Ländern im weltweiten Corruption Perception Index. Aber es sind nicht nur die Politiker und die Politik im Allgemeinen, die für die Korruptionsskandale und -affären verantwortlich sind. Wie die Großbauwerke des PAC zeigen, sind auch Unternehmen und Personen außerhalb der Regierung involviert. Letztendlich ist Korruption eine Form von illegalen und illegitimen Geschäften, die sowohl den öffentlichen wie privaten Sektor umfassen.

Bei so vielen Korruptionsskandalen, ist der Mensalão-Fall [pt] jedoch ein besonderer Fall. Wie die Zeitschrift GPS Brasília erklärt, war der Fall einer der größten der brasilianischen Geschichte:

O mensalão foi um esquema montado no governo Lula para comprar apoio de parlamentares e para saldar dívidas de campanha com dinheiro não contabilizado, o chamado caixa 2. Os acusadores entenderam que pelo menos quatro partidos – PT, PP, PL (hoje PR) e PTB – beneficiaram-se do esquema, além da contrapartida para empresários e funcionários de instituições financeiras.

Der „Mensalão“ [Neologismus, z.Dt. etwa „großer Monatslohn“] war eine während der Regierung Lula praktizierte Form, bei der Abgeordnetenstimmen gekauft und Schulden mit Geldern aus schwarzen Kassen bezahlt wurden, die sogenannte „caixa 2“ (Kasse 2). Die Kläger sind der Ansicht, dass mindestens vier Parteien – die Partido dos Trabalhadores (PT), die Partido Progressista (PP), die Partido Liberal (heute Partido da República, PR) und die Partido Trabalhista Brasileiro (PTB) – davon profitierten, als auch die Unternehmer und die Beamten in den Finanzverwaltungen.

Nach ersten Berichten im Jahr 2005, wurde der Fall Ende letzten Jahres abgeschlossen. In einem historischen Urteil verurteilte der Oberste Gerichtshof [pt] die große Mehrheit der 38 Angeklagten, unter anderem José Dirceu, ehemaliger Bundesinnenminister, Delúbio Soares, Schatzmeister der Partido dos Trabalhadores (PT) sowie den Unternehmer Marcos Valério.

Historisches Urteil

Cerimônia de posse do ministro Joaquim Barbosa. Foto da Agência Senado. (CC BY-NC 2.0)

Einführungszeremonie des Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofes, Joaquim Barbosa. Foto der Agência Senado. (CC BY-NC 2.0)

Obwohl immer neue Korruptionsfälle aufgedeckt werden, verspürt ein Großteil der Bevölkerung das Gefühl, dass die Straffreiheit überdauert. Das Urteil des Obersten Gerichtshofes zum Mensalão-Fall – insbesondere vertreten durch den Vorsitzenden des Gerichtshofes, Joaquim Barbosa, könnte jedoch ein Signal sein, dass die Zeiten sich ändern. Fans von Joaquim Barbosa richteten bereits eine Seite für eine mögliche Kandidatur [pt] für die nächsten Präsidentschaftswahlen ein.

Mit der Intention die Straffreiheit zu  beeenden, gründete sich die „Brasilianische Vereinigung gegen Korruption und Straffreiheit“ (Associação Brasileira Contra a Corrupção e Impunidade [pt]). In ihrem Manifest schreibt die Vereinigung:

em nosso país a corrupção tende a ser considerada natural, como se fosse crônica e incurável, com a qual estamos obrigados a conviver, embora a maioria do povo brasileiro não aceite a corrupção e mesmo se revolte com o que vê e ouve. (…) É nessa cultura que se apóiam os atos de corrupção que é preciso eliminar da prática administrativa, política e empresarial e da vida cotidiana em nosso país, desde a prática individual de cidadãos isolados até as atuações organizadas de corporações e governos a qualquer nível.

In unserem Land wird Korruption als etwas natürliches angesehen, als ob sie eine chronische und unheilbare Krankheit wäre, mit der man leben müsse, obwohl die Mehrheit des brasilianischen Volkes Korruption nicht akzeptiert und sich aufgrund der Zustände empört. (…) Das ist Teil dieser Kultur, die wir aus dem Umgang der Verwaltung, der Politik, der Unternehmen und im Alltag unseres Landes beseitigen müssen. Angefangen von den allein handelnden [und korrumpierenden] Bürgern bis zu den organisierten Straftaten der Unternehmen und der Regierungen auf jeder Ebene.

Dieser Idee folgend, sprießen derzeit Organisation, die Prinzipien einer offenen und transparenten Verwaltung fordern, in allen Teilen des Landes. Brasilien ist beispielsweise eines der acht Gründungsländer der Open Government Partnership [en], ein Initiative um die Regierungspraxis auf der gesamten Welt zu verbessern. Das Instituto Ethos [pt] startete ein Internetportal namens Jogos Limpos [pt] um die Verwaltungspraxis der Ausrichtersstädte der Fußball-WM 2014 zu begleiten. Der Großteil der Stadtverwaltungen zeigt sich hier auf einem sehr niedrigen Transparenz-Level.

Die Herausforderung der Veränderung ist sehr groß. Aber es ist absolut notwendig, dass sich hierbei alle beteiligen, damit auch in Zukunft Skandale auch Skandale sind und nicht alltägliche Nachrichten.

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