Russland: Konkurrierende Modelle der Internetpolitik

Dieser Artikel wurde von Katharina Martaler-Martin, Natalie Meckes, Margarita Paul und Nadja Schramm, Studierende des FTSK Germersheim, unter der Leitung von Dr. Stephan Walter im Rahmen des Projektes „Global Voices” übersetzt.

Die im Herbst 2010 entbrannte Debatte darüber, ob das Internet die Demokratie fördere oder ihr schade, ist nicht nur in den USA ein viel diskutiertes Thema. Während in Amerika die „Cyber-Pessimisten” [en] wie z. B. Jewgeni Morosow und Malcolm Gladwell lauter als ihre Gegner die Stimme erheben, lässt sich in Russland die umgekehrte Situation beobachten. Neben den üblichen Kontroversen über die positiven und negativen Aspekte des technologischen Einflusses auf den Netzaktivismus ereignet sich dort nun in gewisser Weise mehr als nur „Cyber-Optimismus”.

Direkte Internetdemokratie – Neues Wort mit alter Bedeutung

Die russischen Politiker haben ihre eigenen Gründe, sich auf die Seite der „Cyber-Optimisten” zu stellen. Alexej Tschadajew, einer der Ideologen der russischen Regierungspartei „Einiges Russland”, schlug vor, Dmitri Medwedews These zur „Direkten Internetdemokratie” [ru] aus dem programmatischen Dokument mit dem Titel „Direkte Internetdemokratie als Instrument der Modernisierung” [ru] weiter auszubauen.

Laut Tschadajew ist die Internetdemokratie mehr als nur „ein weiterer Schritt in der globalen Entwicklung von demokratischen Institutionen.” „Sie dient als Mittel, um die Frage nach dem Sinn der Demokratie neu zu stellen, die grundlegenden Probleme jeder beliebigen demokratischen Institution aufzuzeigen und dadurch zu verstehen, welche Gefahren die Massendigitalisierung der Kommunikation birgt und welche Perspektiven für eine tatsächliche Demokratisierung der Massenpolitik bestehen, unter anderem auch durch die radikale Umstrukturierung solch traditioneller Organisationen wie Parteien.”

„Internetdemokratie” ist ein vom Kreml eingeführter Begriff, genauso wie „Gelenkte Demokratie” [en] (2005) und „Souveräne Demokratie” [ru] (2006), die dazu verwendet wurden, das zunehmend autoritäre bzw. hybride Regime in Russland zu rechtfertigen und zu verschleiern. In seinem Minimalprogramm schlägt Tschadajew folgende Maßnahmen vor: Einführung eines elektronischen Abstimmungssystems für die nächsten Duma-Wahlen 2011, Einführung eines Systems zur öffentlichen Bewertung der Tätigkeit von Vertretern der Exekutive, Beseitigung der digitalen Kluft, Weiterentwicklung der IP-Telefonie, Entmonopolisierung des Marktes für Softwareprodukte und Bereitstellung lizenzfreier Software für das Bildungssystem. Allerdings sieht keine der vorgeschlagenen Neuerungen die Einrichtung von nachhaltigen politischen Institutionen für Bürger vor.

Noch bevor das Dokument des Zentrums für Modernisierungsforschung Mitte November veröffentlicht wurde, hatte Luke Allnutt in seiner Kolumne mit dem Titel „Russia‘s ‚Youtube democracy‛ is a Sham” [en] in der Online-Zeitung The Christian Science Monitor erklärt, was hinter der Euphorie der russischen Regierung in Bezug auf die Internetdemokratie steckt.

Laut Allnutt nutzt der Kreml das Internet aus, um reale politische Prozesse vorzutäuschen. Russische Politiker setzen beispielsweise Twitter ein, um ihre Nähe zum Volk auf persönlicher Ebene zu demonstrieren, ohne jedoch dabei tatsächliche politische Veränderungen durchführen zu wollen. Non-Profit-Organisationen und Journalisten werden bedroht, können aber zumindest darüber in ihren Blogs berichten. Der Internet-Aktivismus, so Allnutt, wird von autoritären Regimes wie dem russischen geduldet, solange er den Bürgern dazu dient, ihrem Ärger Luft zu machen.

Michail Men, Gouverneur des Gebiets Iwanowo und aktiver Twitter-Nutzer (@mikhail_menn), hätte Allnutts Beobachtungen kaum besser bestätigen können, als bei der letzten RuNet-Preisverleihung [ru]:

И искренне стараюсь как можно больше общаться с жителями региона и твиттерянами, которые находятся в других регионах по всей стране. И я считаю это абсолютно нормальным диалогом, нормальным общением…

Ich versuche, mich möglichst viel mit den Bewohnern unserer Region und den Twitter-Nutzern, die in anderen Regionen des Landes wohnen, auszutauschen. Ich halte das für einen völlig normalen Dialog, für einen normalen Austausch…

Digitale Gesellschaft – ein neues Phänomen

Die Idee über die positiven Auswirkungen der Technologie darf gerade in Bezug auf Russland nicht so schnell verworfen werden. Obwohl die russischen Staatsideologen versuchen, das autoritäre bzw. hybride Regime durch die Einführung von hochtechnologischen, wenn auch nur oberflächlichen Innovationen aufrechtzuerhalten, schafft das Internet ein neues Umfeld, das von niemandem – nicht einmal dem Staat – gänzlich überwacht werden kann. Im Folgenden führe ich einige Gründe auf, die zur Annahme bewegen, dass das Internet ein wahrer Katalysator für politische Veränderungen sein kann.

Netzaktivismus

In seiner Kolumne „Wir können auch ohne den Staat überleben” [ru] formulierte Andrej Loschak eine wichtige These: „Derzeit gibt vor allem die virtuelle Welt, das heißt die Blogosphäre, Grund zu Optimismus.” Loschaks Argument beruft sich auf die Selbstorganisation und gegenseitige Hilfe, die durch das Internet verstärkt zusätzlich zu Emigration und Straßenprotesten eine neue Strategie engagierter Bürger darstellen.

Интернет уже давно стал параллельной реальностью, в которой есть все то, чего не хватает в жизни: свобода слова, отсутствие показухи и пропаганды, гражданская активность…

Das Internet hat sich längst zu einer Parallelwelt entwickelt, in der das vorhanden ist, was im realen Leben fehlt: Redefreiheit, gesellschaftlicher Aktivismus – eine Welt ohne Augenwischerei und Propaganda…

Derzeit beschränkt sich der gesellschaftliche Onlineaktivismus auf das bloße Reposting von Sensationsmeldungen, in denen es um maßlose Ungerechtigkeiten geht. Dennoch, so Loschak, ist das Reposting ein erster wichtiger Schritt, der zeigt, dass die Bürger nicht mehr länger teilnahmslos zuschauen wollen. Die Energie, die aus dem Gefühl der Unzufriedenheit entsteht, sammelt sich und wird zu einer wahren Antriebskraft im Kampf gegen die Ungerechtigkeit.

In zahlreichen Artikeln über die Freiwilligenbewegung, die während der Großbrände im Sommer 2010 in Russland entstanden war, zeigte [en] Grigori Asmolow, wie eine zivilgesellschaftliche Struktur aus einer unabhängigen Netzgemeinschaft hervorgehen und dabei nicht nur soziale Funktionen effizient erfüllen, sondern je nach Notwendigkeit auch eine politische Position einnehmen kann [en].

Instrument für journalistische Recherchen

Auf Global Voices wurde bereits mehrfach über die Rolle der Blogosphäre bei der Aufdeckung von aufsehenerregenden Korruptionsskandalen berichtet (einige Beispiele finden Sie hier [en] und hier [en]). In der russischen Blogosphäre werden sogar monatlich neue Fälle aufgedeckt. Am 06.02.2010 zeigte Alexej Nawalny, derzeit der bekannteste russische Blogger, der selbstständig Nachforschungen anstellt (ein Interview von Global Voices mit Alexej Nawalny hier [ru]), was ein einziger Mensch mithilfe des Internets verändern kann. Einer seiner letzten Posts über den Korruptionsskandal beim russischen Ölkonzern Transneft [ru] wurde im RuNet zur Sensation und zog die Aufmerksamkeit von mehr als einer Million Menschen auf sich, einschließlich hochrangiger Beamter. Alexej Nawalny stieß bei seiner Rechereche auf Dokumente, die er überprüfte und veröffentlichte. Aus diesen ging hervor, dass während des Baus der ESPO-Pipeline [de] mehr als vier Milliarden US-Dollar veruntreut wurden. Nawalny rief die Leser seines Blogs dazu auf, den Inhalt der Dokumente weiter zu verbreiten und staatliche Ermittlungen zu fordern. Diese veröffentlichten die Informationen auf weiteren sozialen Netzwerken wie Facebook, LiveJournal und Vkontakte, um sie so vielen Menschen wie möglich zugänglich zu machen.

Alternative Informationsquelle

In ihrem Artikel auf GlobalPost [en] macht Miriam Elder darauf aufmerksam, dass das Internet im Gegensatz zum Fernsehen und den Printmedien das einzige Medium ist, welches nicht von der Regierung reguliert und kontrolliert werden kann. Elder führt zwei Beispiele für neue Massenmedien an, die sich ausschließlich auf Material aus dem Internet stützen. Eines davon ist der Online-Fernsehsender TV Rain [ru], der alternative Tagesnachrichten zeigt. Die Gründer des Portals haben drei Slogans verwendet, um das Vertrauen in das Medium Fernsehen wiederherzustellen: „Wir machen Fernsehen aus Leidenschaft”, „Gebt dem Fernsehen eine zweite Chance” und „Wir zeigen Ihnen die Realität”. Das Onlineportal besttoday.ru [ru], das von Marina Litwinowitsch, einer bekannten russischen Bloggerin und Aktivistin, geleitet wird, ist ein weiteres Beispiel für alternative Massenmedien. Der gesamte Inhalt des Portals basiert ausschließlich auf Blogbeiträgen.

Elder zitiert Soja Swetowa, eine russische Journalistin und Bloggerin, die das Internet mit dem Samisdat – der Bewegung der selbstpublizierten Untergrundliteratur in der Sowjetunion – vergleicht und sich dabei auf das Argument stützt, dass beide vom Volk selbst gegründet und verbreitet wurden. Jedoch hat das Internet im Gegensatz zum Samisdat bedeutend mehr Einfluss und Reichweite.

Steigende Internetnutzerzahlen

Russland gehört zu den Ländern, in denen die Zahl der Internetnutzer besonders rasant ansteigt [ru]. Aus einer Statistik des Meinungsforschungsinstituts TNS [ru] für den Zeitraum von 2009-2010 geht hervor, dass die Zahl der Zuschauer bei russischen Fernsehsendern rückläufig war, wohingegen die der Internetnutzer immer weiter anstieg. So konnten einige Websites wie Yandex oder Vkontakte eine ähnliche Popularität verzeichnen wie einige große Fernsehsender. [ru] Dabei ziehen nicht nur junge Menschen das Internet anderen Medien vor, sondern auch die ältere Generation nutzt das Internet nun immer häufiger.
Nicht jede Onlinenachforschung oder -kampagne verläuft erfolgreich, aber darauf lässt sich hinarbeiten. Die russische Regierung kann es sich noch nicht (oder nicht mehr) leisten, den Aktivismus der digitalen Zivilgesellschaft zu ignorieren, und ist gezwungen, auf die Kritik im Netz zu reagieren.

Fazit

Wir können beobachten, wie das russische Internet zum Schauplatz eines Konkurrenzkampfes zwischen mindestens zwei Konzepten zur Nutzung des Cyberspace wird: Einerseits das Prinzip „Internet statt Demokratie” der Partei „Einiges Russland” und andererseits die ursprüngliche, unabhängige Vorstellung der Bevölkerung vom Internet als freies demokratisches Umfeld. Noch haben beide Modelle die gleichen Chancen. Das Ergebnis wird jedoch davon abhängen, ob die Blogosphäre ihre Rolle und Mission erfüllen kann. Dazu [ru] Maxim Trudoljubow in der Onlineausgabe der Wedomosti:

Интернет позволяет имитировать активность, чем, я уверен, обязательно займутся официальные структуры вроде «Единой России» (они уже выпустили доклад об «интернет-демократии» как инструменте модернизации). Они не будут и не могут сделать главного — институциональных изменений. Такие изменения не даются — их добиваются.

Das Internet ermöglicht es, Aktivität vorzutäuschen – und das werden offizielle Strukturen wie „Einiges Russland”, die bereits ein Dokument über die Internetdemokratie als Instrument der Modernisierung veröffentlicht haben, auch tun. Aber sie können und werden das Wichtigste, nämlich institutionelle Veränderungen, nicht veranlassen. Solche Veränderungen sind uns nicht gegeben – man muss sie sich erkämpfen.

Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit Mascha Jegupowa verfasst.

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