Brasilien: Freiheitsmarsch in 40 Städten

Dieser Beitrag ist Teil unseres Dossiers SlutWalks 2011.

Am Samstag, dem 18. Juni 2011, fand in vierzig brasilianischen Städten der Freiheitsmarsch statt. Eine Vielzahl Gruppen, Kollektive, Bewegungen, Organisationen und empörter Menschen brachte ihre Entrüstung zum Ausdruck. Der Anlass für diesen spontanen Aufstand war die gewaltsame Unterdrückung des Marihuana-Marsches von São Paulo durch die Militärpolizei am 21. Mai. [TV Trip hat ein großartiges Video vom Marihuana-Marsch erstellt.]

Die Gewalttätigkeit war von so großem Ausmaß, dass sie den Zorn von tausender junger Leute weckte, die sich über soziale Netzwerke wie Facebook organisierten und in São Paulo am darauffolgenden Wochenende am ersten Freiheitsmarsch teilnahmen.

Erster Freiheitsmarsch in São Paulo. Foto von Marcel Bertoldi/Fora do Eixo auf Flickr (CC BY-NC-SA 2.0).

Erster Freiheitsmarsch in São Paulo. Foto von Marcel Bertoldi/Fora do Eixo auf Flickr (CC BY-NC-SA 2.0).

Der Aufruf [pt] zum Friedensmarsch war an alle gerichtet, und forderte sie dazu auf, ihre Redefreiheit einzufordern:

Quando a tropa de choque bateu nos escudos e, em coro, gritou CHOQUE! a Marcha pela Liberdade de Expressão do último sábado se tornou muito maior. Não em número de pessoas, mas em importância, em significado.

Foram liminares, tiros, estilhaços, cacetadas, gases e prisões sem sentido. Um ataque direto, cru, registrado por centenas de câmeras, corpos e corações. Muita gente acha que maconheiros foram reprimidos.

Engano…
Naquele 21 de maio, houve uma única vítima: a liberdade de todos.

Als die Truppen des Aufstands ihre Schilde aneinander schlugen und im Chor AUFSTAND! schrien, wurde der Marsch für Meinungsfreiheit am letzten Samstag sehr viel größer. Nicht in der Anzahl der Leute, sondern in Wichtigkeit, in Bedeutung.
Es gab Kommandos, Schüsse, Schrapnell, Prügeleien, Gas und sinnlose Festnahmen. Eine direkte Attacke, roh, von hunderten Kameras, Körpern und Herzen aufgezeichnet. Viele Leute denken noch immer, dass die Marihuana-Raucher unterdrückt wurden. 

Falsch…

An jenem 21. Mai gab es nur ein Opfer: die Freiheit von allen.

Die Bewegung, die zugleich spontan und politisch war, zeichnete sich durch ein Fehlen von Hierarchie, Anführern, politischen Organisationen oder Ideen aus. Aber die Empörung breitete sich wie eine Epidemie auf 40 brasilianische Städte aus.

Vierzig Städte versammelten sich am Samstag, den 18. Juni 2011 für die Freiheit.

Vierzig Städte versammelten sich am Samstag, den 18. Juni 2011 für die Freiheit.

Der größte Teil der brasilianischen Justiz beschloss einzugreifen, und am 15. Juni sprach der Oberste Gerichtshof ein Urteil in dem Prozess, das die Organisation der Proteste für die Legalisierung von Marihuana erlaubte. Diese Entscheidung war die Garantie dafür, dass die Demonstranten marschieren konnten ohne von Schlagstöcken, Pfefferspray oder Bomben getroffen zu werden.

Júlio Delmato, ein Mitglied von Coletivo DAR (DAR steht für Erwachende Vernunft), glaubt, dass der zweite Freiheitsmarsch in São Paulo ein Sieg über die Unterdrückung war:

Este sábado marcou não só o dia nacional de marchas pela liberdade como também a primeira vez em que pudemos sair às ruas em São Paulo e falar sobre políticas de drogas sem mordaça.

Dieser Samstag zeichnete sich nicht nur durch den nationalen Tag der Freiheitsmärsche aus, sondern auch dadurch, dass wir zum ersten Mal raus auf die Straßen von São Paulo gehen und über die Drogenpolitik sprechen konnten ohne geknebelt zu sein.
Freiheitsmarsch Curitiba. Foto von André Rodrigues, verfügbar auf dem Blog Tudo de Fotografia.

Freiheitsmarsch Curitiba. Foto von André Rodrigues, verfügbar auf dem Blog Tudo de Fotografia.

In jeder Stadt wurden lokale Forderungen zu der der Meinungsfreiheit hinzugefügt. Marihuana wurde eine Forderung wie viele andere. Aktivisten marschierten unter anderem gegen das geplante hydroelektrische Kraftwerk in Belo Monte [en], gegen das neue Forstbaugesetz das kürzlich verabschiedet wurde, für Demokratisierung der Medien, bessere öffentliche Verkehrsmittel, Gleichberechtigung der Geschlechter, gegen wahllosen Gebrauch von Pestiziden und gegen Homophobie.

Nicht einmal die traditionellsten Medien konnten es vermeiden über den Freiheitsmarsch zu berichten, doch die alternativen Medien berichteten ausgiebig darüber. Das Circuito Fora do Eixo [pt], ein Kulturarbeit-Netzwerk mit 72 Standorten in ganz Brasilien, sendete live von verschiedenen Märschen in unterschiedlichen Städten.

Die im World Social Forum gegründete Zeitung Brasil de Fato [pt], die nur Nachrichten über soziale Bewegungen sammelt, berichtete [pt] ebenfalls über den Marsch:

[A marcha em Curitiba] está sendo organizada por grupos de artistas independentes, partidos políticos, feministas e grupos de LGBT, anti-racistas, ambientalistas, do movimento estudantil e de comunicação. “De forma geral, podemos observar o protagonismo da juventude tanto na organização da marcha quanto nos movimentos que a compõe”.

[Der Curitiba Marsch] wird von einer Gruppe unabhängiger Künstler, politischer Parteien, Feministen und LGBT Gruppen, Anti-Rassisten, Umweltaktivisten, Studenten und Kommunikationsbewegungen organisiert. “Im Großen und Ganzen können wir beobachten, dass die Jugend eine führende Rolle in der Organisation des Marsches und aller dazugehöriger Bewegungen übernimmt.”

Der Journalist Xico Sá listete in seinem Blog 22 Gründe [pt] auf, am Freiheitsmarsch teilzunehmen. Hier sind einige von ihnen:

I)Temos que retomar o prazer pelas ruas, seja em um passeio, seja em um ensaio de revolta. A velha lição do flâneur, do que vaga ou do que atira pedras.

VII) O protesto pode sim virar uma festa. Quando isso acontece é ainda mais perigoso para o Establishment entediado e careta.

IX) É livre a participação de todos as legendas, mas que levemos de partidos para a avenida apenas os nossos pobres e resistentes corações.

XI) É numa passeata que você pode encontrar de verdade o amor da sua vida. Aquele amor acima de qualquer suspeita ideológica.

XIII) Sim, protestamos mas não somos chatos, tiramos la buena onda, preste atenção como agora somos ainda mais anarquistas.

XIV) O blasé datou, é hora de escancarar a bocarra e mostrar que tem peito e uma alma capaz de escândalos.

XVII) Como a liberdade é um mote muito amplo, aproveite para protestar contra tudo e contra todos.

XVIII) Se der vontade, tire a roupa.

XXI) Triste da geração que passa pela vida sem fazer um barulho ou uma confusão bem grande na existência.

XXII) Protestar é sexy, é Eros derrotando a morte de quem aceita o pijama como um precoce paletó de madeira.

I) Wir müssen das Vergnügen über die Straßen zurückgewinnen, egal, ob durch einen Spaziergang oder durch den Versuch eines Aufstands. Die alte Lektion des Flâneur, die des Herumtreibens, oder die des Steinewerfens.

VII) Der Protest kann zu einer Party werden. Wenn das passiert, ist es noch gefährlicher für das langweilige und alte Establishment.

IX) Die Teilnahme ist für alle Beteiligten gratis, wir müssen nur unsere armen und beständigen Herzen mit auf die Straßen nehmen.

XI) In einem Protestmarsch kannst du die Liebe deines Lebens finden. Jene Liebe, die über jedem ideologischen Verdacht erhaben ist.

XIII) Ja, wir demonstrieren, aber wir sind nicht langweilig, wir sind cool drauf, beachte, dass wir jetzt noch anarchistischer sind.

XIV) Gleichgültigkeit ist out, es ist an der Zeit, den Mund aufzumachen und zu zeigen, dass wir Brüste und Seelen haben, die skandalfähig sind.

XVIII) Wenn du willst, zieh dich aus.

XXI) Traurig ist die Generation, die durchs Leben geht, ohne während ihrer Existenz Lärm zu machen oder große Verwirrung zu verursachen.

XXII) Protest ist sexy, Eros besiegt den Tod, der einen Schlafanzug als eine frühe hölzerne Jacke annimmt.

Freiheitsmarsch in Brasilien. Foto von Marcus Franchi Nogueira auf Facebook (mit freundlicher Genehmigung)

Freiheitsmarsch in Brasilien. Foto von Marcus Franchi Nogueira auf Facebook (mit freundlicher Genehmigung).

Indymedia Brazil, das Kollektiv, das den Freiheitsmarsch in Natal (Rio Grande do Norte) organisierte, forderte seine Mitbürger zum marschieren auf [pt]:

Nossas reivindicações não têm hierarquia. Todas as pautas se completam na perspectiva da luta por uma sociedade igualitária, por uma vida digna, de amor e respeito mútuos. Somos todos pedestres, motoristas, cadeirantes, catadores, estudantes, trabalhadores. Somos todos idosos, índios, travestis. Somos todos nordestinos, bolivianos, brasileiros, vira-latas.
E somos livres.

Unsere Forderungen haben keine Hierarchie. Alle Punkte auf unserer Agenda sind aus der Perspektive eines Kampfes für eine egalitäre Gesellschaft, für ein würdevolles Leben, voller Liebe und gegenseitigem Respekt. Wir alle sind Fußgänger, Autofahrer, Rollstuhlfahrer, Müllmänner, Studenten, Arbeiter. Wir alle sind alte Leute, Einheimische, Transvestiten. Wir alle sind aus dem Nordosten, Bolivianer, Brasilianer, obdachlos. 

Und wir sind frei.

Wie in Natal wurde auch in der Hauptstadt Brasília der Freiheitsmarsch zeitgleich mit dem Slut Walk [en] ausgeführt, ein Manifest für Frauen auf der Suche nach Respekt für ihre Körper und ihre Kleidung.

Cuiabá Freiheitsmarsch. Foto von Ederson Deka auf Flickr (CC BY-NC-SA 2.0).

Cuiabá Freiheitsmarsch. Foto von Ederson Deka auf Flickr (CC BY-NC-SA 2.0).

Obwohl weniger Leute kamen als erwartet, lief der Marsch in Cuiabá, der Hauptstadt von Mato Grosso, über die wichtigsten Straßen, an denen die teuersten Pubs und Clubs sind. Mit den beinahe traditionellen Schreien, Postern und Pfiffen war der Protest einer der größten der letzten Zeit, und bewies die Ungültigkeit der Theorie einer apathischen Jugend.

Mato Grosso ist dafür bekannt, ein Staat zu sein, in dem die Politiker reaktionär sind und von einer kleinen Gruppe Parlamentarier geleitet werden, die eine “moderne Oligarchie” gebildet haben, die Entscheidungen in Sektoren treffen, die von den Bürgern bestimmt werden sollten. Mato Grosso empfing den Marsch mit sehr besonderen Schreien, wie im Blog Rad Rocker [pt] festgehalten wurde:

Marchinhas do tipo “Livra, livra, livra a sociedade desse Riva” e “Walter Rabelo, cadê você, eu vim aqui só pra te ver” foi o jeito animado encontrado para criticar o governo e o descaso com a sociedade cuiabana.

Lieder wie “Setzt diesen Riva ab” und “Walter Rabelo, wo sind Sie? Wir sind nur Ihretwegen gekommen” waren die lebhafte Weise, Kritik an der Regierung und der Nachlässigkeit mit der Gesellschaft von Cuiabá auszudrücken.

Viele Geschichten, viele Forderungen und der Wunsch, die Dinge zu verändern. Man schrie sich die Kehle heiser nach Gerechtigkeit, Demokratie und Menschenrechten in Brasilien. Es wurde deutlich gezeigt, dass es Grenzen in der Geduld eines leidenden, aber glücklichen Volkes gibt.

Wie Xico Sá sagte, kann der Protest zu einer Party werden, und Brasilien würde es nicht anders haben wollen. Millionen junger Leute fanden Clownsnasen, Postern und Karnevalskostümen ihre Art zu sagen, dass sie GENUG von allem haben, das falsch ist.

Freiheitsmarsch in Belo Horizonte. Foto von Junia Mortimer/Coletivo Pegada, verfügbar auf Flickr (CC BY-NC-SA 2.0)

Freiheitsmarsch in Belo Horizonte. Foto von Junia Mortimer/Coletivo Pegada, verfügbar auf Flickr (CC BY-NC-SA 2.0)

Dieser Beitrag ist Teil unseres Dossiers SlutWalks 2011.

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