Marokko: Onlinedebatten toben Tage vor der Parlamentswahl

Dieser Beitrag ist Teil unserer Sonderberichterstattung zu den Protesten in Marokko 2011.

Marokko wird am Freitag, den 25. November 2011, Parlamentswahlen abhalten. Die Wahl ist die erste seit das Referendum im Juli 2011 zur Annahme einer Reihe von Verfassungsänderungen geführt hat, die vom König vorgeschlagen wurden und – offiziell – dazu dienen sollen, seine Privilegien zugunsten eines demokratisch gewählten Parlamentes und der Regierung zu reduzieren.

Die Wähler werden die Mitglieder des Repräsentantenhauses [Unterhaus] [en] des marokkanischen Parlamentes für eine Amtszeit von 5 Jahren wählen. Die Wahlen beinhalten nicht die Versammlung der Räte [Oberhaus] [en], welche indirekt durch einen getrennten Prozess von Gewerkschaften und lokalen Räten gewählt wird.

Die neue Verfassung [en] sieht vor, dass der König den Premierminister aus der Partei auswählt, welche die meisten Stimmen in der Wahl gewinnt. Die Regierung wird dann gemäß einer parlamentarischen Mehrheit gebildet.

Das Unterhaus wird durch ein geschlossenes Parteilistensystem mit proportionaler Repräsentation gewählt. Das bedeutet, dass die Wähler für eine Partei stimmen und nicht für einen individuellen Kandidaten. Laut offizieller Zahlen haben sich 13 Millionen Marokkaner für die Wahl registriert.

Der Wahlkampf hat offiziell am 12. November begonnen und läuft bis zum 24. November, der Nacht vor der Wahl.

Einige schreiben die durch den König herbeigeführten Verfassungsänderungen und die Geschwindigkeit, mit der die Reformen durchgeführt werden, dem Druck zu, der durch die Bewegung des 20. Februar ausgeübt wurde, die die Straßenproteste der letzten Monate geführt hatte. Andere denken, dass die Bewegung seit dem Referendum im Juli an Kraft und an Anziehungskraft für die Öffentlichkeit verloren hat.

Während des Wahlkampfes aktiv zum Boykott aufzurufen ist in Marokko illegal. Einige Aktivisten, die Flugblätter mit Inhalten, wie “I werde boykottieren. Was ist mit dir?”, verteilten, wurden in Städten wie Casablanca, Rabat und Tanger kurzzeitig verhaftet.

Die “February 20 Coordinations”, d.h. die lokalen Komittees der Bewegung, in Casablanca, Rabat und anderen großen Städten veröffentlichten eine Erklärung [fr], die zum Boykott der kommenden Wahl aufruft. Am Sonntag folgten tausende Demonstranten dem Aufruf und marschierten im ganzen Land.

Onlinedebatte

Marokkanische Netizens nutzen das Internet ausgiebig, um die Themen der kommenden Parlamentswahlen zu diskutieren. Ein Teil der Diskussion dreht sich um die Wahlprogramme der konkurrierenden Parteien, um die Frage, ob man an der Wahl teilnehmen oder sie boykottieren soll, und um die Rolle der prodemokratischen Jugendbewegung “20. Februar” [ar]. Die Debatte tobt über alle sozialen Netzwerken und Blogs hinweg und es nicht ungewöhnlich, dass die Diskussionen eine provokative Wendung nehmen.

Khalid Zriouli fordert eine vernünftigere Debatte. Er schreibt [ar]:

صوت على أية جهة تريد.. لكن لا تشتم الآخر ولا تسبه،
تريد أن تقاطع؟؟ قاطع، لكن لا تتهم المصوتين بأقبح الصفات..
دافع عن فكرتك واجذب الناس إليها.. إن كانت دلائلك قوية ستفعل ذلك دون الحاجة إلى معاداة الآخر.
Wähle, wen du willst, aber beleidige deine Gegner nicht […]
Du willst [die Wahl] boykottieren? Gut. Aber bitte mach denjenigen keine Vorwürfe, die sich dafür entscheiden haben zu wählen. Verteidige deine Ideen und mobilisiere Menschen um dich herum … Wenn deine Argumente stark genug sind, musst du niemanden gegen dich aufbringen.

Unter den 395 Sitzen der zukünftigen Kammer sind 60 für eine nationale Liste von Frauen reserviert.

Houda sagt, sie wird wählen. Sie zweifelt an, dass die Maßnahmen zur Steigerung des Frauenanteils im Parlament funktionieren werden, wenn die Frauen am Freitag nicht wählen. Sie hat ihren marokkanischen Mitbürgern und wahlberechtigen Frauen folgendes zu sagen [fr]:

On nous leurre avec une égalité de surface et une parité chimérique. On nous promet constitutionnellement un droit qui n’a plus besoin d’être argumenté […]
Votez citoyennes, les citoyens qui comptent vous gouverner, ont maintenant la conscience tranquille.

Sie locken uns mit einer Fassade der Gleichberechtigung und einer illusorischen Gleichheit. Sie versprechen uns ein verfassungsmäßiges Recht, für das wir nicht länger argumentieren müssen […] Wählt [am Freitag], Mitbürgerinnen. Diejenigen, die über euch geherrscht haben, haben ihr Gewissen nun gereinigt.

Der Human Development Index 2011 vom UNDP (United Nations Development Program) stuft Marokko [en] auf dem 130. Platz ein, hinter vielen vergleichbaren arabischen Staaten. Bei einem Besuch in Norwegen, dem Land, welches an der Spitze des UNDP-Rankings steht [en], konnte Ayman nicht anders, als einen Vergleich anstellen. Er sagt, er wird wählen, aber verurteilt die Leistung der amtierenden Regierung. Er schreibt [fr]:

La Norvège m’a fait pâlir de jalousie à un point où je suis devenu allergique aux déclarations ridicules d’un gouvernement qui nous a fait perdre 4 place en 4 ans et qui continue de nous faire rougir de honte par les programmes électoraux flous de ses ministres qui ont mis maintenant la casquette de leurs partis périmés.

Norwegen hat mich grün werden lassen vor Neid bis zu dem Punkt an dem ich allergisch wurde auf die lächerlichen Erklärungen unserer Regierung, die uns vier Plätze [im Human Development Index] in vier Jahren gekostet hat und uns weiterhin beschämt mit den Wahlplänen ihrer Minister und deren altmodischen Parteien.

Viele Bürgerinitiativen haben sich in dieser Wahlperiode herausgebildet, darunter Wlad Cha'ab (Kinder des Volkes), eine Podcast-Plattform, deren Mitbegründer Khaled Abjik ist und die den Teilnehmern die Möglichkeit bietet, ihre Argumente für oder gegen die Teilnahme an der kommenden Parlamentswahlen zu teilen.

Das folgende Video [ar] ist das erster einer Serie. Einige Teilnehmer rufen zum Boykott auf, andere sagen, dass sie wählen werden um das politische Establishment zu verändern. Andere parodieren die Kampagnen der politischen Parteien.

Und es gibt keine Knappheit an Kreativität zwischen Gegnern und Befürwortern der Wahl, die sich einen “Wie-du-mir-so-ich-dir-Kampf” in den sozailen Netzwerken liefern.

Bei YouTube werden Videos von Wahlbefürwortern und Wahlgegnern hochgeladen. Das folgende Video wurde von the3doors gepostet. Es ruft dazu auf, an der Wahl teilzunehmen, denn “eine Stimme ist nicht genug”:

In dem folgenden Video von DIRIKTEtv, welches während einer Boykott-Demonstration aufgenommen wurde, äußern die Befragten verschiedene Gründe, warum sie am Freitag nicht wählen werden, darunter weit verbreitete Korruption und der Mangel an Vertrauen in die politische Elite.

Bürgerbeobachtung

Die kommende Wahl wird durch lokale sowie akkreditierte ausländische Wahlbeobachter überwacht [en] werden. Einige Bürger haben sich jedoch entschieden die Sache in die eigenen Hände zu nehmen. Marsad.ma [ar] ist eine Plattform von der Marokkanischen Menschenrechtsorganisation (OMDH), die den Bürgern erlaubt, die Wahl zu beobachten und Zwischenfälle oder Unregelmäßigkeiten, die bei der Wahl auftreten, mit verschiedenen Tools, zum Beispiel Twitter oder SMS, zu melden. Die Website stützt sich auf die Erfahrungen der bekannten Ushahidi-Plattform [en].

Riad Zany interviewt ein Teammitglied von Marsad:

“In diesem Jahr mit den Veränderungen in der gesamten Region und der Bedeutung des Internet als Bürgerschaftsinstrument haben wir uns dazu entschieden, die digitale Technologie und neue Medien auszuprobieren”, sagt Mounir Bensalah, ein Beobachter und Mitglied des Marsad-Teams.

Kampagne 2.0

Die politischen Parteien versuchen auch einen Vorteil aus der weitverbreiteten Nutzung der sozialen Medien durch Jugendliche zu gewinnen. Viele Parteien und politische Führer haben ihre eigenen Facebook-Seiten und Twitter-Konten eingerichtet. Aber sie sind laut Marouane Harmachis zu spät in das Spiel eingestiegen. Er schreibt [fr]:

La forte pénétration des médias sociaux parmi les jeunes (merci le printemps arabe), a poussé les organisations demanderesse d’audience large : les entreprises, les organisations associatives, les partis politiques et …. les politiciens à utiliser ces canaux dans leur communication à l’adresse des militants et du large public.
Au Maroc, les politiciens et les organisations politiques ont compris – un peu tardivement – l’intérêt des médias sociaux et ont commencé à l’investir de manière très souvent gauche et maladroite.

La raison de cette « gaucherie » est la déconnexion des politiciens des attentes et des pratiques des catégories les plus « connectées ».

Die große Verbreitung der sozialen Medien bei jungen Menschen (danke arabischer Frühling), zwang Organisationen, die eine größere Zielgruppe suchen (Unternehmen, NGOs, politische Parteien und … Politiker), diese Kommunikationskanäle zu nutzen, um mit den Aktivisten und der allgemeinen Öffentlichkeit zu kommunizieren.

In Marokko haben die Politiker und politischen Organisationen den Wert der sozialen Medien – spät – realisiert und angefangen, auf oft ungeschickte Art und Weise in diese zu investieren.

Der Grund für diese Ungeschicklichkeit ist die Unverbundenheit der Politiker mit den Erwartungen und Praktiken der meist “verbundenen” Jugend.

Internet, ein Raum für öffentliche Debatte

Die Parlamentswahlen verursachen eine leidenschaftliche Debatte in Marokko, besonders unter jungen Menschen. Ein zunehmend wichtiger Teil dieser öffentlichen Debatte findet im Internet statt. Es ist jedoch noch nicht klar, welche Rolle das Internet in der realen Politik in Marokko hat, aber eines ist sicher: politische Organisationen sowie Aktivisten sind immer mehr auf soziale Medien angewiesen. Die arabischen Revolutionen haben möglicherweise eine Rolle bei dieser Entwicklung gespielt.

Dieser Beitrag ist Teil unserer Sonderberichterstattung zu den Protesten in Marokko 2011.

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