Ist Wladimir Kara-Murzas Krankenhauseinweisung Zufall oder böse Absicht?

Vladimir Kara-Murza. Public domain.

Wladimir Kara-Murza, Foto urheberrechtsfrei.

Wladimir Kara-Murza, ein russischer Oppositioneller, ist schlagartig krank geworden und kollabierte am Dienstag, den 26. Mai, in seinem Moskauer Büro. In der Notaufnahme des Krankenhauses verschlechterte sich sein Zustand rapide. Am 28. Mai sagte sein Vater gegenüber RFE/RL “Heute Abend versagten seine Nieren, doch dank eines künstlichen Organs ist er am Leben geblieben, glücklicherweise gibt es die Dialyse… Außerdem haben sie ihn an eine künstliche Lunge angeschlossen. Er ist von zehn lebenserhaltenden Apparaturen abhängig”.

Ende des darauf folgenden Wochenendes sagte Kara-Murzas Vater, die Verfassung seines Sohnes habe sich anscheinend stabilisiert, aber er würde im künstlichen Koma bleiben und weiterhin auf der Intensivstation liegen. Kara-Murzas Ärzte legten fest, dass sein Zustand es gegenwärtig nicht zulässt, zur Behandlung ins Ausland zu reisen, wie es von seiner Frau erbeten worden ist.

Am Tag vor Kara-Murzas Einweisung in die Klinik publizierte die Stiftung Offenes Russland, für die er als Koordinator arbeitet, ein schonungslos offenes Exposé über die Rolle von Ramsan Kadyrow in Tschetschenien. Offenes Russland, im September 2014 von dem früheren politischen Gefangenen und Öl-Oligarchen Michail Chodorkowski gegründet, betrachtet ihr Anliegen als Förderung der politischen Werte Europas in Russland. Ihre aktuelle Dokumentation “Die Familie” verurteilt Kadyrow wegen seiner führenden Rolle in einer rechtlosen Schreckensherrschaft.

Dieser Ablauf der Ereignisse, nämlich die Veröffentlichung des Exposés, gefolgt von einer abrupten Verschlechterung des Gesundheitszustandes eines Koordinators von Offenes Russland, hat weit verbreitete Spekulationen entfacht, wonach Kara-Murzas Erkrankung keine natürlichen Ursachen haben könne.

Eine reichlich bizarre Videovorschau, die Kadyrow am 25. Mai bei Instagram gepostet hat, nur wenige Stunden nachdem die Dokumentation von Offenes Russland erstmals erschien, löste weitergehende Verdächtigungen aus. Die Vorschau für das vermutlich gefakte Video “Wer nicht hören will, muss fühlen” [He Who Doesn’t Understand Will Understand Soon] zeigt Kadyrow auf penetrante Art und Weise beim ziellosen Abfeuern automatischer Waffen. Der Politologe Stanislaw Belkowski interpretiert dieses Video als eine “unausgesprochene Bedrohung” gegen die Macher der von Offenes Russland verbreiteten Filmdokumentation.

Im Hinblick auf das feige Attentat, dem der russische Oppositionelle Boris Nemtsow im Februar in Moskau zum Opfer fiel, hört man im Internet viele nachdenkliche Stimmen bedeutender Persönlichkeiten, wonach nicht auszuschließen sei, dass Wladimir Kara-Murza vergiftet wurde, es sich also um einen weiteren politisch motivierten Mordanschlag handeln könnte. Die frühere Moskau-Korrespondentin Julia Ioffe schrieb bei Twitter, dass russische Oppositionelle nunmehr zu Tode gehetzt würden:

Andere haben diese Vermutungen ohne zu Zögern verhöhnt, indem sie bisweilen sarkastisch von “Zufall – wohl kaum!” sprachen und damit ein im Internet verbreitetes Mem des berühmten Fernsehjournalisten Dmitri Kisseljow zitierten:

Publizist Wladimir Kara-Murza ins Krankenhaus eingewiesen, Zustand besorgniserregend. Zufall? Wohl kaum!

Am Freitag berichtete FT, dass Kara-Murzas “Freunde immer mehr davon überzeugt sind, dass er vergiftet wurde”. Die Journalistin Masha Gessen verbindet Kara-Murzas jähe Erkrankung mit der jüngeren russischen Geschichte mutmaßlicher Giftanschläge, wie in dem US-amerikanischen Magazin The New Yorker zu lesen war. “In der Tat, die furchtbare Botschaft hinter der Ermordung von Nemtsow und dem mutmaßlichen Anschlagsversuch auf Kara-Murza lautet: “Niemand kann sich sicher fühlen”, schrieb Gessen.

Am Donnerstag trat der frühere US-Botschafter in Russland, Michael McFaul, in der Rachel Maddow Show bei MSNBC auf. Nachdem er russische Aktivisten aufzählte, auch Hinweisgeber und Journalisten, die in Putins Regierungszeit unter mysteriösen Umständen gestorben waren, fragte Maddow McFaul nach seiner Sichtweise in Bezug auf Kara-Murzas völlig unverhoffte Erkrankung. “Es muss uns klar sein, dass nicht alle Fakten auf dem Tisch liegen und deshalb können wir einfach nicht genau wissen, was Wladimir zugestoßen ist… Aber wenn man eins und eins zusammenzählt, sieht es nach einer geplanten Aktion aus”, antwortete McFaul. “Für die Opposition soll dieser Vorfall offensichtlich eine abschreckende Wirkung haben. In Russland sind die Leute verängstigt und viele von ihnen haben bereits das Land verlassen.”

Angesichts des Krankheitsbildes von Kara-Murza, das bisher von medizinischer Seite nicht bestätigt worden ist, haben im russischen Internet einige andere Gerüchte die Runde gemacht, zumeist nach den Bekanntmachungen durch Kara-Murzas Vater.

Am 27. Mai sagte Kara-Murzas Vater, was er über die Krankheit seines Sohnes weiß: “Alles hatte mit seinen Nieren zu tun” und “es könnte verdorbener Joghurt oder etwas anderes gewesen sein”. Er ergänzte: “Ich habe die behandelnden Ärzte gefragt, ob es sich um eine Straftat handeln könnte. Sie sagten, es könnte alles Mögliche gewesen sein, das Tscheburek von gestern, eine Banane, ein Apfel… Ich glaube nicht an ein Verbrechen. Falls es eins gewesen ist, würden wir hier und jetzt nicht mehr mit Ihnen darüber reden können.” “Für Kara-Murzas Kollegen, Vorstandsmitglied der oppositionellen Republikanischen Partei Russlands RPR-Parnas, ist diese Erklärung äußerst unbefriedigend:

Wolodja [Kurzform für Wladimir] Kara-Murza liegt schwerkrank in der Klinik. Verdorbener Kefir ist nie und nimmer dermaßen giftig. Wolodja, gib nicht auf!

Am 28. Mai räumte Kara-Murzas Vater daraufhin ein, dass sein Sohn nach der Ermordung seines Freundes Boris Nemtsow mit der Einnahme von Anti-Depressiva begonnen habe und seine Ärzte vermuten würden, diese Medikation habe seine Erkrankung verursacht. Daraufhin seien Proben dieses Medikaments für weitere Tests nach Europa gesandt worden, um Anhaltspunkte zu erhalten, ob Kara-Murza vergiftet wurde oder ob er an einer anderen Krankheit leidet.

Obwohl Gerüchte, Verdächtigungen und Ängste, sowohl im Internet als auch in Moskau herumschwirren, warnen einige Analysten vor voreiligen Schlüssen. “Es gibt eine besorgniserregende und durchaus auch verständliche Tendenz, auf Schritt und Tritt ein mörderisches Komplott am Werke zu sehen, sobald es um das Thema Russland und Oppositionelle wie Kadyrow oder um den Kreml geht. Aber ich denke, es ist einfach viel zu früh und wir sollten keine voreiligen Schlüsse daraus ziehen, was mit Wladimir Kara-Murza passiert ist”, sagte Mark Galeotti, Professor und russischer Sicherheitsexperte an der Universität New York gegenüber RuNet-Echo. Er ergänzte: “Lasst uns nachprüfbare medizinische Befunde abwarten, bevor wir Fantasie-Szenarien entwickeln, die mehr über unser eigenes Urteilsvermögen als über irgendetwas anderes aussagen”. Galeotti weiter: “Sicherlich ist man bei Kadyrow nur allzu bereit, auf den Verdacht des Mordes zu kommen, aber für ihn wäre wohl eher eine Schusswaffe oder Bombe bestimmt gewesen, als so etwas Subtiles wie Gift”.

Nichtsdestotrotz, Kara-Murzas plötzliche Erkrankung, die dem politischen Mord an Nemtsow auf dem Fuße folgte, reicht aus, um viele der russischen Oppositionellen reiflich darüber nachdenken zu lassen, was die Fortsetzung ihrer Arbeit im gegenwärtigen politischen Klima für ihre persönliche Sicherheit bedeuten könnte.

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