Portugal: Neuer Schwung durch massive Proteste gegen Troika

Dieser Bericht ist Teil unseres Dossiers über Europa in der Krise.

[Sofern nicht anders angegeben, führen alle Links zu portugiesischen Webseiten.]

Seit der Zeit nach dem Ende der Diktatur in 1974 gab es keine Demonstration mit einer derartigen Teilnehmerzahl wie die massiven Proteste [de] Que se lixe a troika! Queremos as nossas vidas!‘ [Pfeif auf die Troika! Wir wollen unser Leben!] [de] am 15. September, die sich gegen die Sparmaßnahmen richteten.

Zwischen 660.000 und 1 Million Menschen gingen in über 40 Städten inner- und außerhalb des Landes auf die Straße und protestierten gegen die Regierung, die Troika [Inspektoren der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds], die Ungleichheit, die steigende Arbeitslosigkeit und Armut und den Mangel an Gerechtigkeit und Chancen für alle.

Soziale Netzwerke, wie Twitter, sind noch immer voll mit den mit Hashtags #15sPT und #QueSeLixeATroika. Im Blog O que diz a rua [Was die Straße erzählt] wird mittels Crowdsourcing eine große Menge an Fotos und Videos von den Protesten gesammelt. Einige davon werden in diesem Bericht abgebildet.

Die Herausforderung am nächsten Tag

Zahlen zeigen, dass ein immer größerer Teil der Bevölkerung dieses Landes, mit ungefähr 10 Millionen Einwohnern, mit den Maßnahmen unzufrieden ist, die von der Regierung und der Troika auferlegt wurden, um die Staatsschulden zu mindern. Am 7. September kündigte Premierminister Pedro Passos Coelho mehr Sparmaßnahmen [en] für 2013 an, die gravierende Folgen für die Schulden der privaten und öffentlichen Angestellten haben werden.

Photo by Pedro Antunes shared on the blog "O que diz a rua". Castelo Branco, 15/09/2012

Foto von Pedro Antunes, geteilt im Blog “O que diz a rua”. Castelo Branco, 15/09/2012

Während der Umfang der Proteste ein klares Zeichen für die Ablehnung der Sparmaßnahmen seitens der Bevölkerung ist, werden für die nächsten Wochen weitere Entwicklungen auf dem politischen Spielfeld erwartet. Präsident Cavaco Silva hat für diesen Freitag, den 21. September, einen Staatsrat einberufen und das Staatsbudget für 2013 soll am 15. Oktober vom Parlament beschlossen werden.

Photo by Teresa Valente shared on the blog "O que diz a rua". Coimbra, 15/09/2012

Foto von Teresa Valente, geteilt im Blog “O que diz a rua”. Coimbra, 15/09/2012

Währenddessen nutzen die Bürger ihre Blogs, um Gedanken zum neuen Schwung, für den die Proteste sorgten, zu äußern und über mögliche Wege zur Stärkung der Bevölkerung zu schreiben.

Photo by 35mm (Luís Afonso) shared on the blog O que diz a rua

Foto von 35mm (Luís Afonso), geteilt im Blog “O que diz a rua”. Lissabon, 15/09/2012

“Anstatt sich über Politik zu beschweren, ist es Zeit selbst Politik zu machen”, schreibt der Journalist Daniel Oliveira in seinem Blog für die Zeitung Expresso:

só é possível derrotar a austeridade com propostas alternativas credíveis. (…) a convergência dos que se opõem à austeridade não se faz com apelos, faz-se com a demonstração prática de que há mais coisas que os unem do que as que os separam.

Ein Sieg über die Sparmaßnahmen ist nur mit glaubwürdigen, alternativen Vorschlägen möglich. (…) Die Annäherung jener, die sich gegen die Austerität wehren wollen, sollte nicht durch Aufrufe erfolgen, sondern mit dem praktischen Beweis, dass es mehr Dinge gibt, die sie verbinden, als die sie trennen.

Photo by Vanessa Vedor shared on the blog "O que diz a rua"

Foto von Vanessa Vedor, geteilt im Blog “O que diz a rua”. Lissabon, 15/09/2012

Verschiedene Gruppen haben Vorführungen der vor kurzem veröffentlichten Dokumentation Pots, Pans and Other Solutions [Töpfe, Pfannen und andere Lösungen] organisiert, um sich von den Isländern, ihrem Umgang mit der Finanzkrise von 2008 und der Art, wie „sie in der Gesellschaft interveniert haben und mehr demokratische Mitsprache verlangt haben“ inspirieren zu lassen. (Global Voices berichtete über die Vorbereitungen der Dokumentation im September 2011 – Portugiesen fragen Isländer über Demokratie aus [en]):

The payment of bank debts by citizens went to referendum. The government was forced to create a Council to write a new constitution: a citizens’ group – without politicians, lawyers or university professors – who opened the discussion process to everybody and managed to approve by consensus a draft proposal.

In Iceland, many citizens are now organized in associations and have substantial proposals for a society where everyone can participate.

Die Abbezahlung der Bankschulden durch die Bürger wurde durch ein Referendum entschieden. Die Regierung war gezwungen, einen Rat zu gründen, der eine neue Verfassung schreiben sollte: eine Gruppe von Bürgern – ohne Politiker, Anwälte oder Universitätsprofessoren –, die den Diskussionsprozess für alle zugänglich machte und es schaffte, im Konsens einen vorläufigen Vorschlag auszuarbeiten.

In Island haben sich nun viele Einwohner in Vereinen zusammengeschlossen und bringen wesentliche Vorschläge für einen Gesellschaft, in der jeder mitbestimmen kann.

Professor Heitor Alvelos von der Universität Porto ist der Meinung, dass die wahre „Herausforderung der nächste Tag” sei. Er bekräftigt, dass „die Forderung nach einem neuen Staat eine Neuerfindung der sozialen Paradigmen“ beinhalte, und schreibt über die Lektionen, die er im Anschluss an die Proteste der „Generation, die vom Nötigsten lebt“ am 12. März [en] lernte. Er sagt, dass man nicht damit „starten solle, Vorschläge zu machen“, genauso wenig wie mit der „Organisation von Bewegungen“:

O início de uma mudança efectiva deveria partir tão simplesmente de um convite para que todos passassem a sair à rua -todos- os Sábados, sem agenda, tão somente para re-inventar o espaço público (geográfico, social e afectivo) de forma intuitiva e generativa, infinitamente múltipla. Falando com estranhos, ampliando o micro-debate, descobrindo semelhanças, diferenças, pontes, barreiras, contrastes e conciliações. Cuidando a longo prazo de um tecido social vivo, activo, auto-regenerador.

Eine effektive Veränderung sollte man mit der simplen Einladung, jeden Samstag auf die Straßen zu gehen, beginnen. Ohne Plan, einfach nur, um den öffentlichen Raum auf eine intuitive und generative Weise neu zu erfinden – geografisch, sozial und emotional. Das ist unendlich vielfältig. Mit Fremden sprechen, kleine Debatten vertiefen, Ähnlichkeiten entdecken, Unterschiede, Brücken, Hindernisse, Kontraste und Schlichtungen – langfristig ein lebendiges, aktives, sich selbst regenerierendes soziales Geflecht hegen und pflegen.

"They've reduced me to this. What should I do?" Photo by Paulino Coelho (@cita_57) on the blog "O que diz a rua". Porto, 15/09/2012

“Ich wurde auf das reduziert. Was soll ich tun?” Foto von Paulino Coelho (@cita_57) im Blog “O que diz a rua”. Porto, 15/09/2012

Whatever comes out of this, the Portuguese did demonstrate they CAN STAND UP!

Was auch immer dabei herauskommt, die Portugiesen haben bewiesen, dass sie AUFBEGEHREN können!

Die oben gezeigte Feier [en] wurde auf der anderen Seite der Weltkugel abgehalten, und zwar in Neuseeland, wo Rita Bento Allpress, eine PhD-Forscherin und eine von über 100.000 Portugiesen, die jährlich auswandern, am Sonntag Morgen die Proteste auf Twitter verfolgte.

Währenddessen werden mehr Proteste und Aktionen für die nächsten Tage und Wochen geplant, und laut eines Artikels auf P3 werden viele weitere auf Facebook organisiert. 

Dieser Bericht ist Teil unseres Dossiers über Europa in der Krise.

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