Russland: Die Wahlen und die andere Seite des Panoptikums

Dieser Beitrag ist Teil unseres Dossiers Wahlen in Russland 2011.

Das Internet und die Delegitimierung des Wahlergebnisses

Die russischen Parlamentswahlen haben die Frage, ob das Internet Wahlen beeinflussen kann, mit einem klaren Ja beantwortet.

Gemeint ist nicht, dass das Internet das Ergebnis entscheidend ändern kann. Die Diskussion im Internet kann die Menschen allerdings zu einer stärkeren Wahlbeteiligung motivieren und auch ihr Wahlverhalten beeinflussen. Die russischen Internetnutzer diskutierten ausgiebig darüber, ob und wen man wählen solle [en]. Man konnte sogar beobachten, wie sich allmählich die Auffassung durchsetzte, wichtig sei vor allem, eine andere Partei als Einiges Russland zu wählen [en]. Doch wenn der Staat seinen riesigen Verwaltungsapparat und die verschiedensten Methoden zur „Verbesserung“ des Wahlergebnisses einsetzt, kann das Internet allein den Sieg der herrschenden Partei nicht ernsthaft gefährden.

Auch bei der Organisation der Protestaktionen spielt das Internet nicht unbedingt eine Hauptrolle, obwohl es sehr hilfreich sein kann. So zeigten zum Beispiel die Moskauer Protestkundgebungen, dass das Internet ein wichtiges Instrument für die Informationsweitergabe ist, vor allem wenn das Fernsehen über die Aktionen der Opposition schweigt. Allerdings stellen viele Experten die Bedeutung des Internets als Koordinationsinstrument in Frage. Sie meinen, dass das Internet in diesem Fall nur eines von vielen Instrumenten der Informationsverbreitung und der Beteiligung an Demonstrationen ist, aber kein strategischer Faktor, der das Wesen des Protests verändert.

Die Bedeutung des Internets und der Informationstechnik reicht jedoch tiefer. Sie geht über die Wahlbeeinflussung und die Organisation von Demonstrationen nach der Wahl hinaus. Der russische Fall zeigt, dass die Informationstechnik bei der Delegitimierung des Wahlergebnisses eine zentrale Rolle spielen kann. Je mehr die Bürger von der Unrechtmäßigkeit der Wahlen überzeugt sind, desto wahrscheinlicher werden Protestaktionen und in der Folge das Entstehen eines neuen politischen Systems.

„Man hat euch verarscht.“ Gemeinfreies Foto von Flickr-Nutzer t-radya.

„Man hat euch verarscht.“ Gemeinfreies Foto von Flickr-Nutzer t-radya.

Auslöser der jüngsten Demonstrationen in Moskau, von Aleksej Sidorenko als “Aufstand der Netzhamster” [en] bezeichnet, war das Gefühl, dass das Wahlergebnis nicht rechtmäßig war. Dieses Gefühl kommt in dem zwar nicht politisch korrekten, dafür aber umso deutlicheren Slogan „Man hat euch verarscht.“ [ru] zum Ausdruck, mit dem anarchistische Demonstranten am Wahltag auftraten.

Das Ausmaß der Verärgerung der russischen Öffentlichkeit über das veröffentlichte Wahlergebnis steht in direktem Verhältnis zur Zahl der im Internet bekannt gemachten Wahlfälschungen. Offenbar war die Regierung zwar darauf vorbereitet, das Ergebnis bei Bedarf zu verbessern, nicht aber darauf, diesen Betrug in der neuen Informationslandschaft vor den wachsamen Augen der Bürger zu verbergen.

Die russischen Wahlen und die Befähigung zur Wahlbeobachtung

Von Privatpersonen gespeiste Meldesysteme und von Anwendern veröffentlichte Inhalte sind längst nichts Neues mehr. Interessant sind allerdings das Ausmaß, die Schnelligkeit und die Qualität der Meldungen. Überhaupt zeigt die Beobachtung von Wahlen sehr gut, welche Rolle der Graswurzeljournalismus spielen kann. Seine Wirkung hängt dabei wesentlich vom Verhältnis zwischen dem Umfang der Wahlfälschungen und der Fähigkeit der Bürger, diese zu entlarven, ab.

Bei den russischen Wahlen hat sich dieses Verhältnis zugunsten des Bürgerjournalismus verschoben. Die vernetzte russische Öffentlichkeit konnte eine kritische Masse von Wahlfälschungen erfassen, veröffentlichen und weitergeben. Sie verbreitete nicht nur Berichte, sondern auch Dokumente, Fotos und Filme. Nach der Wahl richtete der Benutzer Против ПЖиВ (Gegen die Partei der Gauner und Diebe) sogar eine YouTube-Playliste der 60 am häufigsten aufgerufenen Filme von Wahlverstößen ein.

Ohne weitreichende Wahlfälschungen kann keine weitreichende Berichterstattung entstehen. In Russland hat sich jedoch nicht der Umfang der Fälschungen geändert, sondern die Fähigkeit der vernetzten Menschen, diese Verstöße so zu dokumentieren, dass die Rechtmäßigkeit der Wahlen in Frage gestellt ist.

Diese neue Befähigung der vernetzten russischen Öffentlichkeit zur flächendeckenden Berichterstattung beruht auf mehreren Faktoren: Informationsquellen, mobile Geräten, Internetzugang und Portale für die Informationsverbreitung.

Informationsquellen

Damit die Informationen im Bürgerjournalismus ununterbrochen fließen, müssen die Menschen motiviert sein, diese Informationen zu liefern. In Russland brachten das politische Klima rund um die Wahlen, die Online-Diskussionen und die Entscheidung einiger Personen, anders als bisher zu wählen, die Menschen zu der Überzeugung, dass es nun an der Zeit sei, sich für die Wahlen zu interessieren.

Die Motivation allein reicht für hochwertige Meldungen jedoch nicht aus. Was wirklich wichtig ist, ist die Struktur des Informationszugangs. Wahlen sind ein Ereignis, an dem jeder Bürger potentiell direkt beteiligt ist, und sei es nur als Wähler, der ein Wahlbüro aufsucht.

Bei den russischen Wahlen konnten wir jedoch beobachten, dass zahlreiche Internetnutzer nicht nur als Wähler am Wahlvorgang beteiligt waren. Zum Beispiel meldeten sich viele als Wahlbeobachter an, verbrachten den ganzen Tag im Wahlausschuss und wirkten bei der Prüfung des Wahlergebnisses mit. Viele berichteten über ihre Erlebnisse und Verstöße (zum Beispiel hier [ru] und hier [ru]). Dmitrij Surnin etwa verglich [ru] die ursprüngliche Ergebnismeldung mit den Informationen auf der offiziellen Website (die, wie auch in anderen Fällen, vom Papierbericht abwichen).

Darüber hinaus berichteten oppositionelle Politiker, Aktivisten nichtstaatlicher Organisationen und offizielle Wahlbeobachter in Online-Medien direkt, was sie sahen. Auch Journalisten gaben ihre Informationen zuerst über soziale Medien weiter, selbst wenn sie an Artikeln für ihr Medium arbeiteten. Die Qualität der Berichte über Wahlfälschungen kann deshalb mit der Art und dem Umfang des Zugangs zum Ereignis (der Wahl) erklärt werden.

Geräte und Anwendungen

Mobiltelefone mit Kamera und Internetzugang (der heute zwar kein Thema mehr ist, noch vor vier Jahren aber vielen Wählern nicht zur Verfügung stand) machten jeden einzelnen zu einer Quelle von Text- und Bildinformationen. Auf Twitter und Facebook wurde live berichtet, wobei häufig nicht nur Texte, sondern auch Fotos und Filme veröffentlicht wurden, die später das Ausmaß des Wahlbetrugs belegen konnten.

Am intensivsten wurden diese technischen Möglichkeiten für die Live-Berichterstattung per Mobiltelefon bei den jüngsten Demonstrationen in Moskau eingesetzt. Als einer der ersten nutzte der Abgeordnete Ilja Ponomarew das Portal Ustream für einen Live-Bericht [en] von der Polizeidienststelle, auf der er festgehalten wurde. Wenige Tage später veröffentlichten zahlreiche Moskauer Demonstranten auf Ustream Material, unter anderem einen Live-Bericht aus einem Polizeifahrzeug, in dem mehrere Personen festgehalten wurden.

Die von Ridus.ru-Reportern per Mobiltelefon veröffentlichten Berichte vom Triumphplatz [ru] wurden rund 46 000 Mal aufgerufen. Auf Twitter berichteten die in Polizeifahrzeugen festgehaltenen Menschen ebenso wie die Demonstranten auf dem Platz über das Geschehen. Kurzum: Die Bedeutung moderner Geräte liegt darin, dass damit ein großer Teil der an einem Ereignis Beteiligten in Echtzeit Bericht erstatten kann (und das Geschehen dabei in Bildern beweiskräftig festhält).

Internetzugang

Motivierte Bürger, viele Menschen mit Zugang zum Geschehen und technische Geräte für die Berichterstattung sind wichtige Faktoren, die ihre Wirkung aber nur mit einer guten Internetverbindung entfalten können – vor allem in Echtzeit. Ohne gute 3G-Netze ist eine Live-Berichterstattung per Mobiltelefon nicht möglich.

Moskau und andere russische Großstädte verfügen über gute 3G-Netze und eine leistungsfähige WiMAX-Infrastruktur. Auch über ältere Mobilfunknetze können zwar Informationen verbreitet werden, dabei geht die Echtzeitwirkung allerdings leicht verloren und die Übertragung von Filmen und Live-Streams gestaltet sich schwieriger.

Portale

Finden sich Menschen, die in Echtzeit über ein Ereignis berichten möchten und können, bleibt zuletzt noch zu klären, wo die Informationsweitergabe stattfinden soll. Naheliegende Möglichkeiten sind Blogsysteme wie LiveJournal und soziale Netze. Auch auf kartanarusheniy.ru konnte jeder Wahlverstöße melden, die Website wurde allerdings Opfer eines massiven DooS-Angriffs [en].

Die russische Informationslandschaft ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass traditionelle und soziale Medien zusammenarbeiten und verschiedene Internetportale zwischen beiden vermitteln (zum Beispiel besttoday.ru und ridus.ru). Ein wesentlicher Teil des Privatpersonen in sozialen Medien veröffentlichten Materials fand bald seinen Weg in unabhängige Medienportale.

Als die DDoS-Angriffe begannen, wandten sich die traditionellen Medien Facebook, Twitter und anderen, nicht von den Angriffen betroffenen Medien zu, um weiterhin Informationen verbreiten zu können. Das auf Netzwerken beruhende russische Informationssystem bewies, dass es sich bei Angriffen anpassen und neue Wege der Informationsverbreitung erschließen kann.

Das Volk ist die Medien

Diese vier Faktoren haben die vernetzte russische Öffentlichkeit in die Lage versetzt, genug Berichte und Beweise zu sammeln, um die Rechtmäßigkeit der Parlamentswahlen in Frage zu stellen. Der russische Fall hat gezeigt, dass das Volk die Aufgabe der Medien übernehmen kann. Er hat auch gezeigt, dass die vernetzte Informationslandschaft ein neues Gleichgewicht zwischen Staat und Bürgern geschaffen hat.

Im 18. Jahrhundert entwickelte Jeremy Bentham das Panoptikum als Modell für die totale Überwachung der Bürger durch den Staat. Einige Experten meinen, dass Informationstechnik und Internet dem Staat zusätzliche Überwachungsmöglichkeiten gegeben haben.

In Russland sehen wir jedoch, dass in einer Welt, in der jeder Bürger potentiell ein Informationssender in einem Sensornetz ist, auch die umgekehrte Situation möglich ist. Nicht nur der Staat überwacht die Bürger, sondern immer mehr Bürger überwachen auch den Staat. Die Informationstechnik macht die andere Seite des Panoptikums sichtbar.

Dieser Beitrag ist Teil unseres Dossiers Wahlen in Russland 2011.

Das Miniaturbild zeigt den Grundriss des von Jeremy Bentham 1791 entworfenen Panoptikums. Das Bild stammt aus der Wikipedia und ist gemeinfrei.

1 Kommentar

  • Herrlich

    Na herrlich.
    Da werden angebliche Tatsachen postuliert und nichts in einen Kontext bzw. eine Relation gestellt.

    Ich finde es ja wenigstens nett, daß die Sponsoren unten stehen. USA, the land of the free.

    Da gab es doch noch diesen anderen Begriff, der mit grassroots im Zusammenhang steht – astroturfing?

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