“Ich starb in Maré” oder wie die Polizei die Favela Maré in ein Schlachtfeld verwandelte

Community of Maré, Rio de Janeiro. Image by the Agência Pública for the documentary "I died in Maré" under Creative Commons licence BY-ND.

Die Favela Maré in Rio de Janeiro. Foto der Nachrichtenagentur Agência Pública für den Dokumentarfilm “Ich starb in Maré”, veröffentlicht unter der Creative Commons Lizenz Nr. BY-ND.

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Es war die Nacht des 24. Juni 2013. Die ganze Welt verfolgte gerade die Protestwelle [en], die seit Anfang des Monats mehrere Städte in Brasilien erfasst hatte. Nach einem bewaffneten Raubüberfall im Anschluss an eine Demonstration in der Gemeinde Bonsucesso stürmte das Bataillon für spezielle Polizeioperationen (BOPE), eine Spezialeinheit der Militärpolizei, die Favela Maré.

Die Polizeibeamten behaupteten, bei der Verfolgung der Diebe in die Gemeinde eingedrungen zu sein. Gegen 19 Uhr wurden dann die ersten Tränengasbomben auf die Anwohner geworfen. Eine davon traf auch die Räumlichkeiten des Observatoriums der Favela, einer Nachrichtenagentur der Gemeinde. Inmitten der Verwirrung wusste zunächst niemand, was los war. Bis in die frühen Morgenstunden hinein hallten jedoch Schüsse durch die Favela. Bis zum Morgen waren 13 Personen getötet worden. Die Favela erwachte und stand unter der Besetzung der BOPE, der Bereitschaftspolizei und der Nationalen Sicherheitskräfte. 

Dieser Vorfall rief Proteste gegen die staatliche Gewalt hervor und lenkte die Aufmerksamkeit auf das Leben der Anwohner in der Favela Maré. Am 11. März 2014 wurde die Mini-Dokumentation “Ich starb in Maré” von der Agência Pública veröffentlicht, einer Nachrichtenagentur für Reportagen und investigativen Journalismus. Die Dokumentation beleuchtet die Folgen des Kampfes zwischen Drogenhändlern und der Polizei aus Sicht derjenigen, die davon am stärksten betroffen sind, den Kindern. Hinter dem Projekt, das duch eine Crowdfunding-Kampagne möglich wurde, an der sich 808 Personen beteiligten, stehen Marie Naudascher und Patrick Vanier, zwei in Rio lebende französische Journalisten.

In der Dokumentation kritisiert Jailson de Souza, der Leiter des Observatoriums der Favela, das Handeln der Polizei: 

É uma ação irresponsável que trata a favela como arena de guerra. Não tem nenhum sentido a polícia agir como agiu hoje pela madrugada, hoje pela manhã e está agindo durante o dia. Não tem nenhum sentido a polícia permanecer aqui com essa força bélica e monstruosa. 

Diese Aktion ist unverantwortlich und macht die Favela zu einem Schlachtfeld. Was die Polizei an diesem Morgen, am Vormittag und den ganzen Tag über getan hat, ergibt überhaupt keinen Sinn. Es macht gar keinen Sinn, dass die Polizei mit diesem riesigen, kriegsähnlichen Aufgebot hier stationiert bleibt.

Die Befriedungspolizei

Die Favela Maré ist mit mehr als 130.000 Bewohnern einer der größten Siedlungskomplexe in Rio de Janeiro. Die Favela wird von den drei größten Drogenbanden der Stadt – Freunde der Freude [en], Rotes Kommando [en] and Drittes Kommando [en] – und Milizen beherrscht. Bisher ist dort noch keine Einheit der Befriedungspolizei (UPP) [en] angesiedelt worden, einer Spezialeinheit der Polizei, die die Favelas von den Drogenbanden zurückerobern soll. Aus Sicht der Regierung ist die Ansieldung der UPP und die Befriedung der Favelas einer der wichtigsten Schritte im Zuge der Vorbereitungen für die Fußballweltmeisterschaft. Anwohner der Gemeinden und die Polizei sind darüber allerdings geteilter Meinung.

Seit Mitte März 2014 nach dem Ausbruch einer neuen Welle der Gewalt durch die Besetzung der Favela Vila Kennedy – wo die 38. UPP stationiert werden wird – berichten immer mehr internationale Zeitungen über die Widersprüche in der Befriedungsstrategie. Die spanische Tageszeitung El País [es] schrieb in einem Artikel, dass Rio “am Scheideweg” stehe: Es steht vor der Wahl zwischen der Aufrechterhaltung der Polizeipräsenz, die “die ersten schwarzen Löcher zeigt oder der Rückkehr zu der alten (und gescheiterten) Strategie der Verfolgung und Zerstörung bewaffneter Drogenbanden”. 

Selbst innerhalb der Polizei bestehen Zweifel an dem Projekt. Allein in diesem Jahr wurden vier Polizeibeamte in von der UPP kontrollierten Gebieten ermordet. Danillo Ferreira, ein Global Voices Mitglied, erklärte in einem Text in dem Blog Police Approach “weder für die Polizei noch für die Gemeinden deckt sich die Propaganda der Regierung mit ihren täglichen Erfahrungen”. Er fügte hinzu:

Sob a pressão para a realização ordeira da Copa do Mundo e das Olímpiadas é bem possível que o governo do Rio de Janeiro mantenha os esforços de financiamento da política das UPPs, que até 2016 pode servir de medida emergencial de contenção das favelas.

Um die Sicherheit der Fußballweltmeisterschaft und der Olympischen Spiele zu gewährleisten, wird die Regierung wahrscheinlich an der Finanzierung der UPP festhalten und die Stationierung der UPP für Notfälle bis 2016 in den Favelas aufrechterhalten.

Widerstandsnetzwerke 

Die Organisationen Redes da Maré und Oberservatorium der Favelas haben sich mit Amnesty International zusammengeschlossen, um gemeinsam Berichte über die alltägliche Erfahrung mit der staatlichen Gewalt innerhalb der Favela zu dokumentieren. Die Arbeit von Journalisten und professionellen Fotografen in Zusammenarbeit mit Anwohnern soll “die Fakten aus Sicht der Menschen zeigen, die in Rio de Janeiros größtem Favelakomplex leben, arbeiten und ihre Kinder aufziehen”.

In einem Artikel mit dem Titel “Warum muss die Polizei so gewalttätig sein?”, der im Rahmen des Projekts veröffentlicht wurde, forderte die Leiterin der Organisation, Eliana Sousa Silva, das bisherige Vorgehen der Sicherheitspolizei zu überdenken:

Nos primeiros 55 dias de 2014, tivemos pelo menos 45 mortos em operações policiais em favelas do Rio de Janeiro, sem contar feridos. São números que propõem a toda sociedade, com urgência, o desafio de refletir e questionar as ações de segurança pública no Rio, especialmente nas favelas.

Como alguém que se constituiu no mundo a partir da Maré, busco compreender as práticas das forças policiais na favela a partir do olhar dos agentes diretamente envolvidos nessa problemática: policiais, integrantes dos grupos criminosos armados e moradores. Meu esforço é pensar caminhos para ampliar o diálogo com as autoridades, que muitas vezes não conseguem envolver no debate a população diretamente atingida pela falta de políticas abrangentes de segurança pública.

In den ersten 55 Tagen des Jahres 2014 starben mindestens 45 Menschen bei Polizeieinsätzen in Rio de Janeiros Favelas, nicht zu vergessen die vielen Verletzten. Angesichts dieser Zahlen sollte die ganze Gesellschaft das Vorgehen der Sicherheitskräfte in Rio und vor allem in den Favelas kritisch hinterfragen.

Ich bin selbst in Maré aufgewachsen und versuche, das Vorgehen der Sicherheitskräfte in der Favela aus Sicht der direkt Betroffenen zu betrachten: Polizeibeamte, Mitglieder bewaffneter krimineller Gruppen und Bewohner. Ich bemühe mich, Wege zu finden, wie man den Dialog zwischen den Behörden und den von der fehlenden Sicherheitspolitik Betroffenen stärken kann, denn bisher wurden diese oft von der Debatte ausgeschlossen.

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