Jugendarbeitslosigkeit in Italien: Zu wählerisch oder schon geflohen?

Am 22. Oktober sagte [it, ebenso wie alle folgenden Links, sofern nicht anders angegeben] Arbeitsministerin Elsa Fornero auf einer von der Assolombarda, dem Verband der Industrie- und Dienstleistungsunternehmen des Großraums Mailand, organisierten Konferenz: “Die jungen Menschen müssen nach Verlassen der Schule eine Arbeit finden. Dabei dürfen sie nicht zu choosy sein, wie man auf Englisch sagt. Ich habe zu meinen Studenten immer gesagt: Nutzt das erste Angebot, das ihr bekommt und seht dann weiter.”

Foto dell'utente instagram @elisadospina, dal sito Generazione Choosy

Bild von der Instagram-Nutzerin @elisadospina, von der Seite Generazione Choosy

Diese Aussage hat in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, vor allem unter jungen Menschen, sofort für Polemik gesorgt, weil sie als Vorwurf an die Jugend interpretiert wurde, die angeblich Probleme hat, Arbeit zu finden, weil sie zu wählerisch ist. Den aktuellen Daten des ISTAT zufolge liegt die Jugendarbeitslosigkeit in Italien bei den 15- bis 24-Jährigen bei 34.50% und ungefähr die Hälfte der jungen Menschen ist nur befristet angestellt und oft unterbezahlt. Italien liegt mit seinem prozentualen Anteil an NEET [en, Not in Education, Employment or Training] in Europa hinter Bulgarien und Griechenland an dritter Stelle; Auswanderung und die sogenannte “Flucht der Gehirne” nehmen ständig zu.

Die Ministerin äußerte sich im Nachhinein nochmals zum Thema und erklärte, sie habe “nie gesagt”, dass die jungen Italiener wählerisch seien, stattdessen seien sie “bereit, jede Arbeit anzunehmen, da sie derzeit unter prekären Bedingungen leben müssen.” Fornero machte klar, dass sich ihre Bemerkung auf eine in der Vergangenheit häufig anzutreffende Situation bezogen habe: junge Italiener hätten sich früher oft geweigert, Arbeit anzunehmen, für die sie überqualifiziert waren, während es ihnen heute “nicht anstehe, wählerisch zu sein”.

Mit diesen Worten konnte sie den entstandenen Aufruhr jedoch nicht beruhigen: Im Internet fand der Begriff choosy vielfach Widerhall und wurde oft ironisch gebraucht, um die Aussage der Ministerin zu kritisieren.
Auf Twitter mangelte es nicht an Wortspielen mit dem Hashtag #choosy — wie zum Beispiel:

@jacopopaoletti: Stay hungry, stay #choosy.

@sergioragone: #choosy in the sky with diamonds.

@taniuzzacalabra: #choosy è se vi pare. – #choosy (wenn es Ihnen so scheint) [Anspielung auf ein Stück von Pirandello, Anm. d. Übers.]

Dalla pagina del gruppo Facebook

Von der Seite der Facebook-Gruppe “Lo Stato Sociale”.

 

Auch auf Facebook hagelte es sarkastische Kommentare zum Ausspruch der Ministerin. Die Band Lo Stato Sociale [“der Sozialstaat”] hat beispielsweise eine Reihe von Parodien auf Film-, Buch- und Songtitel veröffentlicht, in denen das Wort choosy vorkommt und ihre Fans um Ergänzung der Liste gebeten.

In der Zwischenzeit wurde auf der Seite Generazione Choosy eine automatische Galerie mit allen Bildern erstellt, die zum Thema auf Instantgram veröffentlicht wurden.

dal sito Generazione Choosy

Foto des Instantgram-Nutzers @idacia, von der Seite “Generazione Choosy”.

Aber nicht alle Initiativen haben die Sache von der spaßigen Seite betrachtet. Auf der Tumblr-Seite Choosy Sarai Tu  [Selber Choosy] wurden ernstere Kritiken und Anschuldigungen gesammelt sowie Berichte von Menschen veröffentlicht, die vom Problem der Arbeitslosigkeit oder Unterbeschäftigung betroffen sind. Viele haben diese Gelegenheit genutzt, um ihrem Groll Ausdruck zu verleihen und ihre Geschichte zu erzählen – oft sind es hochqualifizierte junge Menschen, die jedoch auf dem Arbeitsmarkt wenig Möglichkeiten haben. Unter den Verfassern können viele Qualifikationen vorweisen, mit denen man noch vor ein paar Jahren leicht Arbeit fand. Einer der Briefe auf der Seite stammt von einer jungen Frau, die erzählt, dass sie vier Jahre nach ihrem Universitätsabschluss in Bauingenieurwesen und Architektur und einer Reihe von Praktika und befristeten Verträgen endlich eine Stelle in einem technischen Büro gefunden hat, wo sie fünf Euro pro Stunde verdient. Andere arbeiten sogar für drei Euro pro Stunde, obwohl sie ihr Studium mit Spitzennoten abgeschlossen haben, wie der unten abgebildete offene Brief zeigt.

Lettera aperta al ministro dal sito choosysaraitu.tumblr.com

Offener Brief an die Ministerin, von der Seite choosysaraitu.tumblr.com

Aus vielen Beiträgen spricht die Entschlossenheit, Italien zu verlassen oder die Überzeugung der bereits im Ausland Lebenden, dass die Arbeitsbedingungen dort besser seien: ein realistisches Bild der Lage in einem Land, in dem den jüngsten ISTAT-Daten zufolge ein Drittel der jungen Menschen vorhat, auszuwandern.

Aber es werden auch andere Stimmen laut, die die ganze Aufgregung herunterspielen, betonen, wie wichtig es ist, sich anzupassen und von jungen Menschen berichten, die sich noch immer weigern, Arbeit anzunehmen, die nicht ihren Wünschen entspricht. Auf dem Blog des Vereins RENA berichtet Irene Bordin von ihren Erfahrungen in Frankreich: Sie arbeitete zunächst als Babysitter und da sie bei dieser Tätigkeit durch einen glücklichen Zufall die richtigen Kontakte knüpfen konnte, wurde sie später Verantwortliche für das Corporate Banking für Länder außerhalb der Eurozone bei einem Bankenkonzern – für diesen Beruf war sie sowohl in Italien als auch in Frankreich ausgebildet worden:

Capisco perché sia valsa la pena di non essere schizzinosa e di accettare di fare la babysitter prima e la tuttofare poi. Capisco perché un ministro, o più semplicemente un adulto di buon senso, possa consigliare ai giovani di non essere “choosy” ma di rimboccarsi le maniche e di cominciare da qualche parte. Non è certo rimanendo chiusa in casa a mandare CV che avrei trovato il lavoro che svolgo ora.

Ich verstehe, warum es sich lohnen kann, nicht wählerisch zu sein und zunächst Babysitter und dann Mädchen für alles zu werden. Ich verstehe, warum eine Ministerin oder ganz einfach ein Erwachsener mit gesundem Menschenverstand jungen Menschen rät, nicht “choosy” zu sein, sondern die Ärmel hochzukrempeln und einfach irgendwo anzufangen. Wäre ich zuhause geblieben und hätte Bewerbungen verschickt, hätte ich sicher nicht die Stelle gefunden, die ich heute habe.

Und dann gibt es einige, die Optimismus zeigen, sich über die Polemik erheben und beschlossen haben, die Initiative Io Voglio Restare [Ich will bleiben] zu gründen, die das Ziel hat, gemeinsam die Arbeitsbedingungen für junge Menschen in Italien zu verbessern, damit es sich wieder lohnt, dort zu bleiben.

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