Die ‘dreifach katastrophale’ Reaktion des japanischen Premierministers auf ISIS’ Lösegeldforderungen

"Abe completely clueless." - Nikkan Gendai; video screenshot courtesy of YouTube user Railgunmani.

“Abe absolut ahnungslos.” – Nikkan Gendai; Video-Screenshot von YouTube-Nutzer Railgunmani.

Nachdem Bemühungen, zwei von ISIS gefangen genommene Geiseln zu befreien fehlschlugen, werden nun Zweifel am Umgang der japanischen Regierung mit der Krise geäußert.

Ein Journalist und Wissenschaftler fragt sich, ob eine Rede des japanischen Premierministers Abe am 18. Januar in Cairo die Krise angestoßen haben könnte. 

Am 21. Januar 2014 setzte die militante Gruppierung ISIS dem japanischen Premierminister Shinzo Abe eine Frist von 72 Stunden, innerhalb der 200 Millionen US Dollar Lösegeld für die beiden Geiseln bezahlt werden sollten.

Am selben Tag veröffentlichte ISIS ein Video, das zwei kniende Männer in orangefarbener Kleidung zeigte, die von einem maskierten, mit einem Messer bewaffneten Mann bedroht wurden. Im Video mahnte ihr Entführer die beiden, dass sie getötet würden, falls die japanische Regierung nicht innerhalb von 72 Stunden ein Lösegeld von 200 Millionen US Dollar bezahlen würde.

Als die Frist am 23. Januar auslief, ohne dass das Lösegeld für die Befreiung der japanischen Bürger Kenji Goto, 47, und Haruna Yukawa, 42, bezahlt worden wäre, verkündete ISIS laut dem staatlichen japanischen Rundfunk NHK , dass eine Stellungnahme über ihre Absichten “bald” veröffentlicht würde. Tatsächlich stand NHK am frühen Freitag nach Ablauf der Frist in direktem Kontakt mit ISIS.

Durch das Verstreichen der First am Freitag und die Unsicherheit, ob die beiden Geiseln leben oder sterben würden, wurde in der japanischen Presse vermehrt ein Augenmerk auf die Fehltritte der Abe-Regierung während der Krise gelegt.

“Der japanische Premierminister Abe hat ein dreifaches Fiasko verursacht”, als er auf die Krise reagierte, behauptete ein weitverbreiteter Artikel der Tages-Boulevardzeitung Nikkan Gendai.

Was hat Abe, Nikkan Gendai zufolge, falsch gemacht?

1) Abe entsandte einen besonders Israel-befürwortenden Abgeordneten nach Jordanien, um die Krise zu lösen.

Der erste schwerwiegende Fehler, gemäß der Analyse von Nikkan Gendai, war Premierminister Abes Entscheidung, Yasuhide Nakayama, den stellvertretenden Außenminister, nach Jordanien zu schicken, um Japans Reaktion auf die Krise anzuleiten.

Nakayama wird seit Langem als Israel zugeneigt angesehen, was problematisch im Umgang mit ISIS ist, die dem Namen nach als islamische Organisation, laut Nikkan Gendai, naturgemäß eine Abneigung gegenüber Israel empfindet.

Und jemanden, der bekanntermaßen mit Israel verbunden ist zu entsenden, um mit arabischen Ländern die Freilassung von Geiseln abzustimmen, war ebenfalls ein Fehltritt. 

2) Abe hat seine Reaktion auf die Forderungen von ISIS vor einer israelischen Flagge vorgetragen.

Gemäß der Analyse von Nikkan Gendai war Abes Entscheidung, ISIS’ Lösegeldforderungen als “verachtenswerte Akte von Terrorismus scharf zu verurteilen”, während er in Jerusalem vor einer israelischen Flagge stand, der zweite schwerwiegende Fehler.

Zum Unglück von Premierminister Abe veröffentlichten ISIS ihr Video der Geiseln und ihrer Lösegeldforderungen während seines Staatsbesuchs in Israel. Es ist anzunehmen, dass die Notfall-Medienkonferenz am exakt selben Ort abgehalten wurde, an dem nur Stunden zuvor Abe und der israelische Premierminister Benjamin Netanyahu eine gemeinsame Pressekonferenz abgehalten hatten, in der sie eine engere Zusammenarbeit der beiden Länder versprachen.

Dies war jedoch keine Entschuldigung für Abe, auf ISIS’ Forderungen vor einer israelischen Flagge stehend einzugehen, was Nikkan Gendai “unbedarft” nennt, da dadurch eine geringe Unterstützung der restlichen arabischen Welt für Japan garantiert ist.

3) Indem Abe unmittelbar konstatierte, dass Japan niemals ein Lösegeld zahlen würde, sprach er das Todesurteil für die beiden Männer aus.

Am 21. Januar, dem Tag, als ISIS ihre Lösegeldforderungen veröffentlichten, erklärte Masahiko Komura, eines der amtsältesten Mitglieder der japanischen Regierungspartei, dass Japan niemals bezahlen würde. Dies beschloss unumstößlich das Todesurteil der beiden Geiseln, so Nikkan Gendai.

Der Begriff “dreifaches Fiasko” (3大失態) aus dem Artikel der Nikkan Gendai greift zurück auf die dreifache Katastrophe von Erdbeben, Tsunami und Kernschmelze, die Japan im März 2011 verwüstete. Der Begriff 3大失態  brachte bis zum Ende des Freitags, 23. Januar, Dutzende von Online-Diskussionen im japanischen Internet hervor.

Noch mehr Fehler

Weitere strategische Schnitzer des Premierministers Abe wurden im Laufe der letzten Wochen aufgedeckt, als er versuchte, der Krise Herr zu werden.

Verschiedene japanische Journalisten, die mit dem mittleren Osten vertraut sind, bewerteten Abes Auftritt in einem Interview der Japan Times kritisch.

Abgesehen davon, die Reaktion auf ISIS in Israel aufzunehmen, zählt zu weiteren Fehlern die Entscheidung, die Verhandlungsbemühungen von Jordanien aus zu führen, einem Land, welches zu einer Lösung der Krise praktisch keine Unterstützung zu leisten imstande ist.

Obwohl die Türkei eine deutlich größere Erfolgsgeschichte in Verhandlungen mit ISIS und anderen militanten Gruppierungen aufweist, weigert sich Großbritannien seit jeher, auf Lösegeldforderungen einzugehen (und garantiert infolgedessen den Tod britischer Geiseln). Zudem besteht die Möglichkeit, dass Großbritannien und dessen Partner, die Vereinigten Staaten von Amerika, Japan unter Druck setzen, ein Eingehen auf die Lösegeldforderungen von ISIS abzulehnen.

Der japanische Journalist und Wissenschaftler Mikio Haruna vermutet, dass noch ein weiteres Debakel, welches auf den 18. Januar zurückgeht, die gesamte Geiselkrise ausgelöst haben könnte.

Abes Reise nach Israel war Teil eines längeren sechstägigen Aufenthalts in verschiedenen Ländern des Mittleren Ostens, bei welchem er von mehr als 100 Regierungsbeamten und Vorständen japanischer Firmen begleitet wurde.

Am 18. Januar besuchte Abe Ägypten, wo er laut Haruna eine Rede hielt, die unter manchen Gesichtspunkten als kampflustig ausgelegt worden sei und die ISIS dazu veranlasst haben könnte, darauf mit ihrer Forderung eines gewaltigen Lösegeldes von 200 Millionen US Dollar zu reagieren.

In der Rede in Ägypten am 18. Januar versprach Abe “den Ländern, welche mit ISIL im Widerstreit stehen” 200 Millionen US Dollar, dieselbe Summe, welche die ISIS drei Tage später von Japan fordern würde.

Als interessanter sehen aber Haruna (sowie die Nikkan Gendai) an, dass der Wortlaut der japanischen Version der Rede, die auf der Website des japanischen Außenministeriums veröffentlicht wurde, sich auf verschiedene Weise von der offiziellen englischen Übersetzung unterscheidet. Diese schlägt ISIS gegenüber einen sanfteren Ton an. Möglicherweise stellt dies das Versehen dar, welches das Geiseldrama überhaupt erst ausgelöst hat.

Haruna vergleicht den offiziellen Wortlaut im Japanischen und die englische Übersetzung von Abes Rede in Cairo, wobei er mit der japanischen Version beginnt:

「イラク、シリアの難民・避難民支援、トルコ、レバノンへの支援をするのは、ISILがもたらす脅威を少しでも食い止めるためです。地道な人材開発、インフラ整備を含め、ISILと闘う周辺各国に、総額で2億ドル程度、支援をお約束します」

We are also going to support Turkey and Lebanon. All that, we shall do to help curb the threat ISIL poses. I will pledge assistance of a total of about 200 million U.S. dollars for those countries contending with ISIL, to help build their human capacities, infrastructure, and so on.

Wir werden auch die Türkei und den Libanon unterstützen. Wir werden all dies tun, um bei der Eindämmung der Bedrohung, welche die ISIL darstellt, behilflich zu sein. Ich werde denjenigen Ländern, welche mit ISIL im Widerstreit stehen, eine Unterstützung von einer Gesamtsumme von 200 Millionen US Dollar zusichern, um ihnen zu helfen, ihre menschlichen Fähigkeiten, Infrastruktur und Ähnliches aufzubauen.

Haruna geht dann dazu über, die Aussagen Wort für Wort zu vergleichen und zu analysieren, wobei er anmerkt, dass die Abkürzung ISIL für “Islamischer Staat im Irak und der Levante” steht. Er erklärt, dass die japanischen Medien, im Gegensatz zum japanischen Außenministerium, nicht die Bezeichnung ISIL benutzen, sondern stattdessen ISIS wählen, wenn sie sich auf die militante Gruppierung beziehen, die droht, zwei japanische Bürger hinzurichten.

Weiter schreibt Haruna:

まず、援助の提供先は、日本語で「ISILと闘う周辺各国」、英語ではthose countries contending with ISIL としているところが気になる。書面だと「闘う」だが、首相が読むと「戦う」とは区別が付かない。英語はcontending。contendは「闘う」場合も「戦う」場合も「論争する」場合も使う。ボクシングの対戦相手はcontenderという。とすれば、「イスラム国」と闘っている国への援助だから、必ずしも軍事援助か、人道援助か明確にされていないことになる。
援助の目的は、日本語ではイラク、シリアの難民・避難民に向けて「ISILがもたらす脅威を少しでも食い止めるため」、英語ではto help curb the threat ISIL poses となっている。英語の方がやや強く、逐語的には、ISIL がもたらす脅威を抑制するのを助けるため、と訳せる。

いずれにしてもISの「脅威」に対する対応策である。

In der japanischen Version der Rede werden die 200 Millionen US Dollar an Hilfsmitteln “den Ländern, die ISIL bekämpfen” versprochen. Mir fiel auf, dass dies in der englischen Version der Rede zu “den Ländern, die mit ISIL im Widerstreit stehen” wird. Liest man die tatsächliche Rede, würde man bemerken, dass Abe eigentlich 闘う (“tatakau”) statt 戦う (ebenfalls “tatakau” ausgesprochen) sagt, doch die beiden Wörter sind Homonyme. Wenn man also die Rede hören würde, ohne den Text zu lesen, wäre man nicht in der Lage, die beiden zu unterscheiden.

Im Englischen kann das Verb 闘う “sich im Widerstreit mit jemandem befinden” bedeuten, und es kann bedeuten, einen Kampf oder eine Schlacht oder ähnliches auszutragen. Es kann auch bedeuten, eine Auseinandersetzung mit jemandem zu haben. Der Gegner in einem Boxkampf wird als “contender” bezeichnet. Dieser Ambiguität ist es also geschuldet, dass vollkommen unklar wird, ob die 200 Millionen US Dollar denjenigen Ländern zugesichert werden, die mit ISIS fertigwerden müssen, oder stattdessen Ländern, welche die ISIS bekämpfen, 200 Millionen US Dollar an militärischen Hilfsmitteln versprochen werden…

…Der japanischen Version der Rede zufolge ist der Zweck dieser Hilfe, die Bedrohung, welche die ISIS darstellt, zu “kontrollieren”. In der englischen Version ist es, die Bedrohung, welche ISIS darstellt, “einzudämmen”. Der Wortlaut der englischen Version ist etwas energischer. Wörtlich genommen könnte es bedeuten, dass die Hilfsmittel dazu benutzt werden, aktiv zur Neutralisierung der Bedrohung durch ISIS beizutragen.

Jedenfalls werden die versprochenen Hilfsmittel mit der Absicht geleistet, ISIS in der Region irgendwie entgegenzuwirken.

Seit Freitag, 23. Januar, blieb das Schicksal der Geiseln unbekannt, manchen Kommentatoren zufolge jedoch war die Reaktion von Abes Regierung eine unglückliche dreifache Katastrophe. Und die gesamte Krise könnte überhaupt erst durch eine Rede, die Abe in Cairo hielt, in Gang gesetzt worden sein.

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