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Surprising Europe, ein offenes Archiv für Geschichten über Migration

Kategorien: Bürgermedien, Flüchtlinge, Ideen, Internetaktivismus, Medien & Journalismus, Migration & Immigration

Sie sind Millionen. Sie leben überall auf unserem Kontinent Europa. Sie alle werden als Immigranten bezeichnet. Jeder von ihnen hat jedoch ein anderes Schicksal und eine andere Geschichte. Wenn wir das Leben jedes Einzelnen aufzeichnen wollten, wären demnach Bände über Bände nötig.

Aber es gibt da ein Online-Projekt, das hilft, einen Kontakt zu jenen Menschen herzustellen, die so vage als Immigranten bezeichnet werden. Das hilft, Vorurteile und Gemeinplätze hinter sich zu lassen und etwas von der ihnen entgegengebrachten Ignoranz zu bekämpfen. Surprising Europe [1] gehört ihnen, es ist ein offenes Buch mit mehreren Verfassern, das durch Bilder und Videos ergänzt wird. Auf dieser Plattform werden persönliche Geschichten, Erfolge, Rückschläge und Hoffnungen festgehalten. Erzählt werden diese Geschichten von den Immigranten selbst.

Surprising, überraschend ist es, zu entdecken, wie viel Kraft nötig ist, um sprachliche, bürokratische und zwischenmenschliche Barrieren zu überwinden.Surprising ist es, davon zu lesen, dass viele zurück nach Hause möchten und nicht können. Wie viele zurückkehren und ihren Freunden erklären: Es ist besser, wenn wir unsere Zukunft hier, im eigenen Land, gestalten. Surprising sind Botschaften wie diese: “Besser arm, aber frei.” Surprising sind Erkenntnisse wie die Tatsache, dass es auch in Europa arme Menschen gibt, dass der alte Kontinent nicht das Paradies ist, von dem man geträumt hat.

Und surprising ist es, wenn einige es dagegen tatsächlich schaffen, ihre Träume zu verwirklichen, entweder durch Musik (wie Clay 2 Nine, der hier [2] auf Englisch seine Geschichte erzählt), durch eine Karriere in einer Fabrik oder durch Weiterbildung und die Aufnahme einer freiberuflichen Arbeit. Auf dieser offenen Website kann sich jeder direkt äußern, Erfahrungen können geteilt und zum Gemeingut werden. Wer dort surft, wird mehr über Leben am Rand der Gesellschaft, aber auch über erfolgreiche Lebensläufe erfahren. Wer diesen virtuellen Raum betritt, sollte seine Vorurteile draußen lassen und gar nichts erwarten, wie bei einem freundschaftlichen Treffen, bei dem einfach erzählt wird.

Dem Non-Profit-Projekt liegt die Absicht zugrunde, von Erfahrungen mit legaler, aber auch illegaler Einwanderung zu berichten. Ins Leben gerufen wurde es von der Witfilm Amsterdam und von Ssuuna Goloob, der selbst aus Uganda nach Europa kam, um herauszufinden, ob das, was man sich über das Leben in unseren Ländern erzählte, wahr sei. Schaut man sich die Liste der Sponsoren an, scheinen viele an das Projekt zu glauben. Man findet dort unter anderem Al Jazeera, das Außenministerium der Niederlande, die Internationale Organisation für Migration und den Fonds der EU für Rückkehrer.

Dass die Idee in Amsterdam entstand, ist kein Zufall: Die Hauptstadt der Niederlande gilt als einer der Orte, in dem die größte Anzahl an Nationalitäten zu finden ist. 176 sind es bei insgesamt 811.000 Einwohnern (im Ballungsgebiet leben 1,6 Millionen Menschen).

Die Website ist in sechs Kategorien unterteilt: Aufbruch nach Europa, Leben in Europa, vom Glück im Stich gelassen, Aktiv werden, Rückkehr, Musik. Einige Fernsehserien sind ein Projekt im Projekt. Jede ist anders, sie werden jedoch von einigen roten Fäden zusammengehalten. Es sind Geschichten von Verzweiflung, die aber auch inspirieren, Hoffnung machen und Kreativität beweisen. Die dunkle und die triumphierende Seite. Kampf, manchmal Niederlage, oft Erfolg. Produziert wird die Serie, die bereits von Al Jazeera und dem staatlichen Fernsehen der Niederlande übertragen wurde, von den Protagonisten selbst. Auf diese Weise sollen Urteile und eine selektive Wahrnehmung keine Chance bekommen.

Das Projekt hat auch seinen eigenen Titelsong “Surprising Europe”. Gesungen wird er von Annie, die als Kind liberianischer Eltern in Italien geboren wurde. Nach Liberia würde sie gern zurückkehren, ihr Land kennenlernen und vielleicht dort leben. Annie ist heute Mitglied einer gemischten Afro-Band, Pepe Soup. Die Botschaft, die sie der Welt mitteilen möchten, ist: UNITE!

Surprising Europe gehört ihnen, den Immigranten, aber auch allen denjenigen, die diese Immigranten verstehen und besser kennenlernen möchten: Denen, die an der Oberfläche kratzen möchten.