Ist Russlands E-Demokratie fehlgeschlagen?

Images mixed by Kevin Rothrock.

Illustration von Kevin Rothrock.

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Im Rahmen eines Projekts für mehr Bürgerbeteiligung hat der Kreml im letzten Jahr das Internetportal Öffentliche Initiative Russland (ROI) gestartet, dass jedem Bürger, der einen Internetanschluss hat, die Möglichkeit gibt, neue Gesetze vorzuschlagen und die Eingaben anderer Bürger zu bewerten. Jede Initiative, die innerhalb eines Jahres 100.000 Stimmen erhält, wird automatisch an ein Expertengremium weitergeleitet, das festlegt, ob die Gesetzgeber des russischen Parlaments den Gesetzesvorschlag in Betracht zu ziehen haben oder nicht.

Obwohl ROI vor fünfzehn Monaten online gegangen ist, hat sich die Schwelle von 100.000 Stimmen für die meisten Initiativen als zu hoch erwiesen; mit Ausnahme von vier Eingaben, bei denen die Prüfkommission der Regierung es jedoch abgelehnt hat, sie an das Parlament weiterzuleiten. Eine dieser vier erfolgreichen Petitionen verlangt die Aufhebung eines 2013 wirksam gewordenen Bundesgesetzes, das dem Staat erlaubt, den Zugang zu Webseiten zu sperren, die Raubkopien anbieten und somit Urheberrechte verletzen. Mit dem Argument, es könnten “unvernünftige” Reformen in die Wege geleitet werden, verhinderte das Expertengremium der Regierung, dass sich das Parlament mit dieser Initiative befasst.

Eine andere erfolgreiche Initiative, die Anfang dieses Monats von den Experten abgelehnt worden ist, setzt sich für den Widerruf von Privilegien ein, die Beamte im Straßenverkehr haben. Der Hauptförderer dieser Petition war Peter Schkumatow, der die so genannte “Gesellschaft der Blauen Eimer” koordiniert. Das ist eine Protestbewegung gegen die Willkür von Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes, die beispielsweise in eigener Machtvollkommenheit Blaulicht und Martinshorn benutzen, wenn sie auf den Autobahnen unterwegs sind. Auf der Plattform ROI schlug Schkumatow vor, diese Sondersignale auf Rettungskräfte zu begrenzen. 

Aktivisten der Gesellschaft der Blauen Eimer präparieren ihr Auto für eine Protestaktion gegen Missbräuche auf Russlands Straßen. 25. April 2010. Lookatme.ru.

Am 5. Mai 2014, nachdem die Petition der Gesellschaft Blauer Eimer ihre einhunderttausendste Stimme erhielt, behandelte das Expertengremium von ROI die Initiative, als ob sie sich für einen gesetzlosen Verkehr auf den Autobahnen eingesetzt hätte:

Необходимо отметить, что вопросы использования специальных световых и звуковых сигналов, устанавливаемых на транспортные средства […] и получения преимущества такими транспортными средствами перед другими участниками дорожного движения в достаточной мере и исчерпывающе урегулированы действующим законодательством Российской Федерации. Предоставление преимущественного права проезда указанных транспортных средств соответствует нормам международного права – Конвенции о дорожном движении, заключенной в г. Вене 08.11.1968, которая на ряду с общепризнанными принципами и нормами международного права является составной частью правовой системы Российской Федерации.

Es ist hervorzuheben, dass in den Gesetzen der Russischen Föderation bereits angemessene und umfassende Regelungen existieren, wie auf Fahrzeugen angebrachte Sondersignale zu nutzen sind […] und dadurch besondere Vorrechte im Straßenverkehr haben. [Der Gesetzgeber] gewährleistet das Wegerecht für bestimmte Fahrzeuge. Dies geschieht in Übereinstimmung mit internationalen Rechtsnormen, insbesondere mit der Wiener Straßenverkehrskonvention vom 8. November 1968, die ein wesentlicher Teil des Rechtssystems der Russischen Föderation ist, gemeinsam mit anderen Rechtsnormen und Grundsätzen, wie sie im internationalen Recht anerkannt sind. 

Angesichts dieser negativen Reaktion brachte Schkumatow in der LiveJournal-Gruppe der Blaue-Eimer-Gesellschaft seine Enttäuschung über den Ablauf der bei ROI eingereichten Petition zum Ausdruck.

Чиновники прямо на моих глазах взяли и спустили ручку унитаза, в котором утонули 100 тысяч наших голосов, включая и мой. Конечно, я не верил в чудо, но я надеялся. Полный крах моих надежд произошел именно вчера. Я понял и лично увидел, что чиновники просто и непринужденно “валят” неудобные им лично инициативы и рьяно поддерживают те инициативы, которые сами и выдвигают. РОИ превратилась из инструмента прямой демократии в инструмент имитации демократии, после чего потеряла всякую значимость для думающих людей. Увы.

Vor meinen eigenen Augen haben es diese Beamten doch tatsächlich geschafft, 100.000 unserer Stimmen, einschließlich meiner eigenen, kurzerhand die Toilette hinunter zu spülen. Selbstverständlich rechnete ich nicht mit einem Wunder, aber ein wenig Hoffnung hatte ich schon. Es war der gestrige Tag, an dem meine Hoffnungen in sich zusammenstürzten. Mir wurde klar, dass diese Beamten einfach alle unbequemen Initiativen abwürgen und allein die Petitionen mit großer Leidenschaft unterstützen, die sie selber eingebracht haben. Die Öffentliche Initiative Russland ist von einem Instrument für mehr Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie zu einem Werkzeug der Scheindemokratie [de] geworden. Man hat sie jeder Bedeutung für Menschen beraubt, die sich ihres eigenen Verstandes bedienen können. Nun ja. 

Als ein Kommentator fragte, ob er jetzt offiziell aufgibt, versprach Schkumatow jedoch, weiter zu kämpfen. Die Blaue-Eimer-Aktivisten haben ihn in die Pflicht genommen, auch künftig Informationen über drastische Verkehrsverstöße zu sammeln und im Internet Fotos und Videos zu zeigen, die dokumentieren, wie auf den Autobahnen geltendes Recht verletzt wird. In der Tat treffen sich die Aktivisten an jedem 19. eines Monats zu einer Autorallye, bei der die Teilnehmer mit oben auf ihren Autos angebrachten blauen Eimern unterwegs sind, um die mit Blaulicht fahrenden Staatsdiener zu verspotten.

Zum Ende dieses Jahres kommt wahrscheinlich noch eine weitere an die ROI gerichtete Petition in das Expertengremium. Diese Initiative würde Reisevisa für Besucher aus den Ländern Zentralasiens sowie aus dem Kaukasus vorschreiben, um illegale Einreisen nach Russland einzudämmen. Diese Petition mit gegenwärtig mehr als 66.000 Unterzeichnern erfreut sich der lautstarken Unterstützung durch den Antikorruptions-Blogger Alexej Nawalny [de], der sich selbst das Image eines Nationalisten gab. In Anbetracht der Zurückweisung erfolgreicher Petitionen durch das Expertengremium – von der unermüdlichen Verfolgung Nawalnys durch die Regierung und deren wachsendem Interesse an der Errichtung einer Wirtschaftszone mit dem Osten gar nicht zu reden – ist es unwahrscheinlich, dass die ROI dem Parlament jemals eine Initiative zur Visaregelung vorlegen wird. Wenn und soweit die Regierung Gesetzesinitiativen gegen eine Zuwanderung aus dem Osten zurückweist, wird dies jedoch in Russland sicher wieder eine Debatte über den Nationalismus entfachen, die in regelmäßigen Abständen zu landesweiten ethnischen Ausschreitungen führt.

Jelena Misulina, 26. Juli 2013, Iswestija.

Während die einen Russlands System der Onlinepetitionen als ein Mittel für mehr Bürgerbeteiligung auf Bundesebene begrüßt haben, ziehen die anderen es vor, unabhängige Portale wie OnlinePetition.ru zu nutzen. Eine auf dieser Webseite populär gewordene Kampagne zielt auf die Parlamentsabgeordnete Jelena Misulina ab, die mit den von ihr angeführten Gesetzesinitiativen

  • zur Einschränkung der Bürgerrechte von Schwulen, Lesben, Bi- und Transsexuellen,
  • zur Abschaffung der Adoption russischer Waisenkinder durch Ausländer, sowie
  • für die Zensur von Schimpfwörtern

heftige Kontroversen ausgelöst hat. Die Petition verlangt vom russischen Gesundheitsministerium, Misulina psychiatrisch begutachten zu lassen, um festzustellen, ob sie geistig in der Lage ist, ihr Amt als Parlamentsmitglied auszuüben (die Autoren der Initiative bezweifeln dies).

Die Anti-Misulina-Petition hat zwar mehr als einhunderttausend Unterzeichner, ist aber nicht bei ROI eingereicht worden, sodass sie völlig inoffiziell und für die russische Regierung nicht bindend ist. Mit anderen Worten: Diesmal muss die ROI ihr Expertenteam nicht einberufen. Der Lauf der Zeit und das lahme Interesse des RuNet [russisches Internet] reichen aus, um Misulina und andere verhasste Politiker Russlands vor der Klapsmühle zu bewahren.

Aber die Öffentlichkeit wird weiterhin unverdrossen ihre Fragen stellen.

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