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Russland: Bringt ein Schneeballsystem die Opposition zu Fall?

Kategorien: Ost- und Zentraleuropa, Russland, Bürgermedien, Internetaktivismus, Politik, Protest, Recht, Regierung, RuNet Echo

Die Wählerregistrierung für die Wahl des Koordinationsrats der russischen Opposition ist abgeschlossen und ab morgen, dem 20. Oktober, werden in einem 48-stündigen Wahlgang 45 Ratsmitglieder gewählt. Ein Großteil der gut 200 Kandidaten stellte sich in den vergangenen drei Wochen in vom oppositionsfreundlichen Sender Doschd TV ausgestrahlten Fernsehdebatten [1] [ru] der Öffentlichkeit vor. Derzeit werden die Wählerregister noch geprüft, doch voraussichtlich werden über 165 000 Bürger an der Wahl teilnehmen. Eine deutlich spürbare Aufbruchsstimmung begleitet dieses vor allem über das Internet geplante und organisierte Großprojekt, mit dem sich die Opposition endlich ein formelles Koordinierungsorgan gibt.

Doch auch Sturmwolken ziehen auf und die Hoffnung auf einen demokratischen Triumph der Protestbewegung könnte scheitern. Die größte Gefahr liegt in den unappetitlichen Ränken einer der zwielichtigsten und abstoßendsten Figuren Russlands: Sergej Mawrodi [2], Gründer des Schneeballsystems MMM. In den 1990ern betrog die Aktiengesellschaft MMM Millionen von Anlegern um ihre Ersparnisse, bevor Mawrodi verhaftet und wegen Betrugs zu vier Jahren Haft verurteilt wurde. Nach seiner Entlassung belebte er MMM wieder, zunächst erneut als Schneeballsystem (was in Russland nicht verboten ist), später als politische Partei. Mawrodis Programm ist – gelinde gesagt – vage; klar ist nur, dass seine Anhänger einen finanziellen Zusammenbruch herbeiführen möchten, der MMM auf irgendeine Weise zu Russlands herrschender politischer Kraft machen soll. (Als infox.ru [3] [ru] Mawrodi fragte, warum er sich in die Wahlen der Opposition einmische, wetterte er wütend gegen den »Zirkus« und die »Schwindler« und erkärte, MMM sei Russlands einzige wahre politische Kraft.)

Sergej Mawrodi. Screenshot aus einem seiner YouTube-Videos, 11. Oktober 2012. [4]

Sergej Mawrodi. Screenshot aus einem seiner YouTube-Videos, 11. Oktober 2012.

Kandidatenregistrierung

Mawrodi greift die Wahl des Koordinationsrats an zwei Fronten an: der Kandidaten- und der Wählerregistrierung. Zunächst versuchte MMM, 64 eigene (getarnte) Vertreter in das Kandidatenverzeichnis einzuschleusen. Die Wahlkommission unter Leitung von Leonid Wolkow deckte das Komplott erst auf, als bereits 53 der »Zombies« durchgerutscht waren und die freiwillige Registrierungsgebühr von 10.000 Rubeln (247 Euro) entrichtet hatten. Wolkow und die Kommission ermittelten 39 MMM-Vertreter, indem sie diejenigen Kandidaten herausfilterten, deren Profil nur aus dem Satz »Ich bin ein gewöhnlicher Mensch« bestand. Wie Mawrodi später eingestand, sollten die Anhänger von MMM an diesem Profil die genehmen Kandidaten erkennen.

Mit der Begründung, durch das Verschweigen ihrer Verbindung zu MMM stellten sie sich absichtlich falsch dar, schloss die Wahlkommission am 20. September [5] [ru] alle Personen, die sie als Mawrodis Akteure betrachtete, von der Kandidatenregistrierung aus. Daraufhin beschuldigte Mawrodi die Opposition, MMM um Registrierungsgebühren in Höhe von mehreren tausend Euro betrogen zu haben. In einem selbstgedrehten Video [6] [ru] verspottete er das Wahlverfahren und eröffnete seinen Investoren, Wolkow habe sie bestohlen.

Wolkow revanchierte sich mit einem Artikel in seinem LiveJournal [6] [ru]:

А вот все-таки, конечно, грустно: вот этот человек, он очевидно сумасшедший и очевидно жулик, он 20 лет занимается мошенничеством, разводя на бабки дебилов, не понимающих разницы между арифметической и геометрической прогрессией […], он плохо говорит и ужасно выглядит.

Es ist natürlich dennoch traurig: Hier haben wir einen Mann, der offensichtlich verrückt und eindeutig ein Schwindler ist, der sich seit 20 Jahren vom Betrug ernährt, indem er Dummköpfen, die nicht zwischen arithmetischen und geometrischen Reihen unterscheiden können, Geld abknöpft […], der schlecht spricht und schlecht aussieht.

Weiter fragte Wolkow, warum die Wahlkommission MMM Geld erstatten solle, das Mawrodi von seinen Investoren erschwindelt hat. Er schlug (vielleicht nicht ganz im Ernst) vor, die verwaisten Registrierungsgebühren von MMM in den Schutz der Kommission vor DDoS-Angriffen zu investieren: »Das wäre das erste Mal in 20 Jahren, dass [MMM-] Gelder sinnvoll angelegt werden.«

Fünf Tage später richtete die Kommission für Mawrodis zurückgewiesene Akteure (und andere ausgeschlossene Kandidaten) ein Vergütungsverfahren [7] [ru] ein, was einige (Wolkov zufolge [8] [ru] drei, nach Angaben des Generalstaatsanwalts 64) MMM-Vertreter jedoch nicht davon abhielt, sich an die Polizei zu wenden und die Kommission des Betrugs zu beschuldigen. Am 17. Oktober [9] [ru] leitete der Generalstaatsanwalt mit der Begründung, die Vertreter von MMM seien um insgesamt über 15.000 Euro betrogen worden, offiziell ein Verfahren gegen die Wahlkommission der Opposition ein.

Über die genaue Höhe der fraglichen Registrierungsgebühren besteht zwar Uneinigkeit, aber der wesentliche Punkt ist ein anderer: Die MMM-Kandidaten bezahlten mit Bankanweisungen. Die Kommission kann die Gebühren also nur zurückzahlen, wenn ihr die ausgeschlossenen Kandidaten die genauen Zahlungsverkehrsinformationen geben. Doch statt diese Informationen herauszugeben, hat MMM die Staatswanwaltschaft dazu bewogen, ein Strafverahren zu eröffnen!

Wählerregistrierung

Obwohl Mawrodis Einmischung in die Kandidatenaufstellung diesen jüngsten juristischen Konflikt auslöste (der Wolkow zufolge die Ausrede für eine Durchsuchung der Kommissionsbüros [8] [ru] liefern soll), wird die Oppositionswahl vor allem durch die Manipulation der Wählerregistrierung gefährdet.

Leonid Wolkow, Screenshot von YouTube, 17. Oktober 2012 [10]

Leonid Wolkow, Screenshot von YouTube, 17. Oktober 2012

Blogger und Journalisten versuchen aus der Webtraffic-Statistik der Wahlkommission (die Wolkow teilweise veröffentlicht hat) zu ermitteln, in welchem Maß MMM die Wählerregistrierung unterwandert hat. Vorsichtige Schätzungen [11] [ru] beziffern den Anteil von Mawrodis Leuten an der Wählerschaft mit rund 15 Prozent, die MMM einen deutlichen, aber keinen entscheidenden Einfluss auf die Wahl geben. Andere Kommentatoren, so etwa Dmitrij Butrin vom Kommersant, halten 30 Prozent [12] [ru] für realistischer (je nachdem, welche der registrierten Wähler die Kommission letztlich zulässt). Obwohl kaum eine genaue Zahl zu ermitteln sein dürfte, sind die Beweise für die Manipulation durch MMM eindeutig. (Wolkow selbst gibt zu [13] [ru], dass die jüngsten Registrierungsspitzen vor allem auf MMM zurückgehen.) Allein Mawrodis Website leitete im September und Oktober mehr als 100 000 Besucher an cvk.org, die Website der Wahlkommission weiter. Um dieses Trafficvolumen zu erreichen, richtete Mawrodi auf der MMM-Website eine schlaue Zugangsbeschränkung [14] [ru] ein: Seine Investoren konnten sich nur noch bei der Website anmelden, wenn sie sich zuvor in das Wählerregister eingeschrieben hatten.

Einige Kommentatoren sind davon überzeugt, dass Mawrodi mit dem Kreml zusammenarbeitet. »Er kann dem Staat etwas Wertvolles verkaufen,« hieß es zum Beispiel in der Zeitung Wedomosti [15] [ru] über Mawrodis gehorsame Investoren. Andere, wie etwa Butrin, betrachten MMM als eine Sekte [12] [ru], die sowohl die russische Protestbewegung als auch die russische Regierung ablehnt.

Zugleich schlachten regierungsfreundliche Blogger die von MMM angezettelten Wahlskandale nach Kräften aus. Wiktor Lewanow nahm das vom Generalstaatsanwalt eröffnete Verfahren zum Anlass [16] [ru], Wolkows Buchführung zu kritisieren und die PR-Ausgaben unter die Lupe zu nehmen, die seiner Meinung nach zum Teil in die Taschen bekannter Oppositioneller geflossen sind. Die frühere Naschi-Sprecherin Kristina Potupschik [17] [ru] zitiert Lewanow und äußert außerdem Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer Zahlung von 800.000 Rubeln (20.000 Euro) an Doschd TV für die Ausstrahlung der Debatten.

Wolkows Reaktion auf die MMM-Krise fällt teils optimistisch, teils defätistisch aus. Er erklärt nur vage, wie die Kommission Mawrodis Wähler loszuwerden gedenkt, und scheint von der Öffentlichkeit blindes Vertrauen in ein gerechtes Vorgehen zu erwarten. Seine Äußerungen zur Ausschaltung der »MMM-Zombies« kreisen um einen einzigen Gedanken [8] [ru]: Die wahren Unterstützer der Opposition müssen vollzählig teilnehmen, damit Mawrodis Pläne scheitern. Anders gesagt: Das Gelingen der Wahl hängt von der Wahlbeteiligung ab.

Dasselbe könnte man allerdings auch von Mawrodis bizarren Ränken sagen.